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das juristische Fach schlug, zu übernehmen. So mochte es neun Uhr geworden sein, als der Oberst das Werkchen, welches ich noch einmal von Anfang bis zu Ende hatte vorlesen müssen, für fertig zum Druck erklärte und die Herren bat, im Salon mit einem kleinen Imbiß vorlieb zu nehmen. Ellinor war mit Adele draußen bei der Mutter und Maria. Die Damen wurden erst gegen elf erwartet, da wir geglaubt hatten, daß die Arbeit uns so lange in Anspruch uehmen würde. Nun that es uns fast leid, so früh fertig geworden zu sein und zum schlechten Lohn für unseren Fleiß der Gegenwart der Lieben entbehren zu sollen. Indessen geschah dadurch der Munterkeit der Unterhaltung kein Abbruch. Wie es nach gethaner Arbeit, die man für Wohlgerathen hält, zu sein pflegt, waren der Oberst und Pahlen in gehobener Stimmung; Adalbert in jener uns unfaßbaren gesprächig mittheilsamen Laune. Auch ich hatte, von dem Eifer der Männer mitentzündet, einmal meine Sorgen in den Hintergrund gedrängt, den seltenen Augenblick rein zu genießen, und ließ mir denselben auch durch die Schmerzen nicht verdüstern, welche meinem Arm das vielstundenlange Schreiben verursacht hatte.

Das einfache Abendbrot war bald eingenommen; der Oberst ersuchte seine Gäste, mit ihm in die Bibliothek zurückzukehren, wo inzwischen die Ingredienzien zu dem Lieblingsgetränk Pahlen’s bereit gestellt waren, die nur er selbst richtig mischen zu können behauptete und in der That meisterlich zu mischen verstand. Bald konnten wir uns an einem Nebentisch um die Bowle setzen, durch deren Dampf der Rauch von Adalbert’s und Pahlen’s Cigaretten wirbelte.

Anfangs hatte das Gespräch sich wieder um die hier vollbrachte Arbeit gedreht, aber bald nahm es eine allgemeinere Wendung zu einer Erörterung der Vorzüge und Schwächen der verschiedenen Kulturnationen, in welcher Pahlen, der so ziemlich alle Länder Europas bereist hatte, dazu ganz Vorderasien und Sibirien bis zu dem fernsten Osten kannte, die Führung zufiel. Wir horchten mit immer steigendem Interesse seinen geistvollen Schilderungen von Land und Leuten in den verschiedensten Zonen, nicht wissend, ob wir mehr den Scharf- und Schnellblick bewundern sollten, mit welchem der Mann das Große und das Kleine erfaßt; oder sein Gedächtniß, dem jedes Datum, jeder Name gegenwärtig war, und das ihn unter Anderem befähigt hatte, acht oder neun Sprachen mit gleicher Vollendung zu sprechen.

„Und wenn Sie nun doch einer unter allen Nationen den Vorzug geben sollten,“ fragte der Oberst, „welche würde die glückliche sein?“

„Aber, lieber Freund, ich bin Russe,“ erwiderte Pahlen lächelnd.

„Eine mir nicht ganz unbekannte Thatsache,“ gab der Oberst scherzend zurück. „Nur daß meine Frage nicht an den Russen, sondern an den Weltbürger gerichtet war.“

„Wenn Sie die Schlinge Ihrer Frage so weit öffnen, ist es freilich nicht schwer, hindurchzuschlüpfen,“ erwiderte der Graf.

„Denn welcher Nation könnte der Weltbürger wohl den Preis ertheilen, als derjenigen, die am meisten dazu beiträgt, eine Zukunft herauszuführen, in der sein Begriff nicht mehr wie heute einen Widerspruch in sich schließt?“,

„Ich hätte freilich auf diese problematische Antwort gefaßt sein sollen,“ erwiderte der Oberst.

„Und die doch gar nicht so problematisch ist, für Sie nicht ist. Seien wir aufrichtig, lieber Freund! Meine Antwort genügt Ihnen vollkommen, denn im Grunde Ihrer Seele sind Sie überzeugt, daß die betreffende Nation gar keine andere als eben die Ihre sein kann, trotz der schweren Schäden, an denen Sie gerade jetzt Leib und Seele derselben kranken sehen. Oder würde sonst Tag und Nacht Ihr Sinnen sein, wie die Nation von diesen Schäden geheilt werden möchte, damit sie in dem Entscheidungskampfe, der hereindroht, – dem Kampfe zwischen dem Germanenthum und Slawenthum – den Sieg an ihre Fahne hefte? Den Sieg, den diejenige Partei davontragen wird, welche nicht numerisch, sondern moralisch die stärkere ist – moralisch im großen weltbürgerlichen, nicht im banausisch-brutalen Kamaschen- und Korporalssinn, der Heuer bei Euch im Schwange ist? Und wenn ich Ihnen in diesem Streben nach meinen schwachen Kräften redlich beistehe, so werden Sie mir, glaube ich, doch den Preis der höheren Uneigennützigkeit zuerkennen müssen. Denn, wir mögen uns stellen, wie wir wollen, aus der Haut unserer Nationalität können wir nicht fahren und den nagenden Schmerz und die brennende Scham nicht verwinden, daß es eben nicht unsere Nation sein soll, welcher in der Wallfahrt der Menschheit nach dem Ziele der höchstmöglichen Vermenschlichung die Führerrolle zufällt. Ihnen freilich traue ich zu, daß, wären Sie in meiner Lage, Sie denken und handeln würden wie ich. Aber Sie sind es doch nun einmal nicht; Sie sind in der glücklichen, für Ihre Nation und für Ihre Menschheitsideale zugleich zu streben in der Erwartung und Hoffnung, daß die Nation Kraft hat, mit ihren größeren Zielen und Pflichten zu wachsen äußerlich und innerlich.“

Die sonst so klare, feste Simme des Mannes bebte, und der Glanz seiner braunen Augen schien gedämpft wie durch einen Flor, als er, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und bald die Arme über der Brust verschränkend, bald mit denselben leidenschaftlich die Luft durchschneidend, also fortfuhr:

„Ja, wachsen und anschwellen – unaufhaltsam! Ich sehe es. Ich sehe die Germanen den Weg rückwärts nehmen, den vor Jahrtausenden ihre Vorfahren gekommen sind; sehe sie die Rosse wieder aus den Fluthen der Wolga tränken, sehe ihre Schiffe schwimmen auf den Wogen des Pontus, ihre Herrscherflagge wehen auf den Zinnen von Byzanz, während das Slawenthum vor ihrem Siegerschritt zurückweicht in die Steppen Asiens. Schritt um Schritt, über endlose blutgetränkte Felder, denn ein Riese, auch wenn man ihm die thönernen Füße zerschlagen hat und er rettungslos am Boden liegt, ist furchtbar, und schwer wälzt der Ueberwinder die ungeheure Masse vor sich her. O mein Gott, mein Gott, daß ich das denken, daß ich das sagen muß! Schützen mich denn wirklich vor dem Fluch und der Verdammniß des Apostaten diese meine Haare, gebleicht in den Kerkern der Tyrannei, von der ich mein Vaterland erlösen wollte? Könnt Ihr hier friedlich sitzen und ohne Ekel aus einem Gefäße trinken mit ihm, der die Hand erhebt gegen seinen Vater? der seine Mutter verhöhnt? seinen Bruder verkauft an den fremden Mann? Könnt Ihr das?“

„Wir können es,“ sagte der Oberst, die Hand des ganz Erschütterten ergreifend; „wir können Ihren Schmerz verstehen, wenn Sie sich auch von ihm zu weit und ins Maßlose fortreißen lassen. Sie vergessen ganz, mein Freund, daß wir Anderen hier, wie wir hier sitzen, in den Augen anderer Parteigänger auch Vaterlandsverräther sind, wie Sie es sind in den Augen der Stockrussen, in Ihren eigenen Augen aber nicht sein sollten – auch nicht in trüben Stunden, wie eben eine über Sie gekommen ist. Durch meine Schuld. Ich bedaure von Herzen meine thörichte Frage, die Sie nicht beantworten konnten, ohne daß kaum verheilte Wunden wieder zu bluten begannen. Verzeihen Sie mir!“

„Dessen bedarf es nicht,“ erwiderte der Graf mit trübem Lächeln. „Eher hätte ich um Verzeihung zu bitten, daß der alte Revolutionär sich gebärdet wie ein Anfänger, der noch an dem ABC seines Metiers studirt. Wer nicht den Muth hat, die letzten Folgerungen zu ziehen, der bleibe davon. Sie freilich wissen ja, daß es mir an diesem Muthe nicht gebricht; daß ich trotz meiner Klagen der ungeheuren Thatsache, die sich eben in Europa zu vollziehen beginnt, ruhig ins Auge sehen kann, weil ich ihre Nothwendigkeit begreife. Weltbewegende Jdeen brauchen Weltreiche, um zur Herrschaft zu gelangen. Der Same des Evangeliums wäre erstickt auf dem steinigen Boden Judäas, hätte das Römerreich ihm nicht die Welt erschlossen. Ohne das Römerreich wieder kein Weltreich Karl’s des Großen und die Vertiefung des Christenthums, wie sie eben nur der germanischen Rasse möglich war. Und daß die germanische Rasse nach tausend Jahren noch nicht abgedankt hat, daß sie berufen ist und sich berufen zeigt, die Weltherrschaft von neuem anzutreten: wer, der Augen hat zu sehen, könnte daran zweifeln? Nun denn: auf dieser Welt Herrschaft und nur auf ihr kann sich das neue Millennium aufbauen, das tausendjährige Reich des reinen Menschenthums, das nicht mehr nach seinem Ursprung fragt, außer etwa im wissenschaftlichen Interesse, wie die Darwinsche Lehre nach der Genesis der Lebewesen, und hinter dem der wüste Streit der Nationalitäten, in welchem wir unser trauervolles Dasein verbringen, liegen wird in nebelgrauer Vergangenheit, wie für uns der Kampf unserer Altvorderen der Steinzeit mit dem Ur und dem Höhlenbären.“

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