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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Dann ist ein Unglück geschehen!“ rief sie, sich in einen Stuhl werfend und in Thränen ausbrechend.

Ich versuchte sie zu beruhigen: was sie denn auf diesen sonderbaren Gedanken bringe? So nachdrücklich sei sein Versprechen nicht gewesen; ich selbst hätte wirklich sein Ausbleiben nicht einmal bemerkt.

„Sie, Sie!“ rief sie. „Aber er hatte auch mir für gestern Abend, während Lamarque auf der Bühne war, ein Rendez-vous gegeben und ist nicht gekommen. Und eben erhalte ich einen Brief von ihm: er müsse auf ein paar Tage verreisen und könne mich erst nach seiner Rückkehr zu sprechen versuchen.“

Mir schoß es wie ein Blitz durch die Seele, daß auch Lamarque ebenfalls heute und ebenso plötzlich verreist sei. Das war doch mindestens ein sehr sonderbares Zusammentreffen.

„Ich bitte Sie, Christine,“ rief ich; „sagen Sie mir Alles! Sie dürfen es. Sie wissen – Du weißt, Christine, daß ich Dein Freund bin und seiner.“

„Ja, ja,“ sagte sie schluchzend, „ich weiß, ich weiß! Ich will Alles sagen.“

Sie fuhr sich mit dem Tuche über die Augen und fuhr, nach Fassung ringend, fort:

„Ich hatte gesehen, wir Ihr beide in dem Musiksaal zusammenstandet und spracht und dann hinausgingt. Ich wollte Euch nach; ich wußte, daß Ihr über mich spracht, und daß Du ihn zur Rede setzen würdest, und es einen Streit zwischen Euch geben würde. Ich konnte nicht durch die Thür, durch die Ihr gegangen wart – nur durch eine andere, die in die vorderen Säle führte. Es dauerte auch nicht lange, da hatte ich ihn entdeckt. Er kam aus dem Zimmer, in welchem ich Euch vermuthet, aber allein, ohne Dich, und drängte sich eilig durch die Leute, als ob er fort wollte. Er mußte an mir vorbei; ich hielt ihn auf.“

Ich stöhnte unwillkürlich.

„Ja, ja,“ rief sie, „hätte ich es doch nur nicht gethan! Aber ich ängstigte mich so um Euch Beide. Und das sagte ich ihm – weiter nichts. Er lachte und sagte, ,im Gegentheil, Ihr wäret die besten Freunde, obgleich Ihr allerdings böse auf einander gewesen wäret,' und er wollte Dich morgen – das ist gestern – besuchen, um die Sache vollends in Ordnung zu bringen. Dann schwieg er einen Augenblick und sah mich traurig an, daß es mir durch die Seele schnitt, und sagte hastig: ,Dich muß ich auch sprechen,' und dann bestimmte er mir die Stunde gestern Abend und einen Ort, wo wir uns schon öfter getroffen. In dem Augenblick strich Lamarque an uns vorüber. Er that, als ob er uns nicht sähe; aber er hatte uns natürlich gesehen. Ich bat Ulrich, er möchte mich um Gotteswillen stehen lassen und sofort aus der Gesellschaft gehen. ,Ich gehe ja schon, Närrchen,' sagte er: ,aber Du kannst doch nicht verlangen, daß ich vor dem Menschen weglaufe!’ So gab er mir die Hand und ging langsam nach der Thür – es war in dem ersten Saal – wo man hineinkommt. Er sprach auch noch mit ein paar Personen, aber immer nur wenige Worte, und ging dann langsam weiter, immer nach der Thür zu, und ich stand auf derselben Stelle und sah ihm nach und betete, daß er nur doch erst fort sein möchte. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß er und Lamarque an einander gerathen würden. Dieser hatte geschworen, er werde es nicht dulden, daß ich je wieder ein Wort mit Ulrich spräche. Ich hatte es ja auch nicht gewollt und wäre gar nicht gekommen, wenn ich gewußt hätte, daß er auch kommen würde, noch dazu um meinethalben.“

„Weiter, weiter!“ rief ich. „Er und Lamarque sind dann doch zusammengetroffen?“

„Unmittelbar an der Thür, nur auf eine Minute – höchstens. Aber – Du weißt, wie scharfe Augen ich habe – ich sah, trotzdem ich so entfernt stand, daß sie Beide, während sie mit einander sprachen, ganz blaß wurden, wenn sie sich auch hernach höflich vor einander verbeugten. Und dann war Ulrich zur Thür hinaus.“

„Und Lamarque?“

„Ich hatte nicht den Muth, mit ihm zu sprechen – ich meine sofort. Dann faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und sagte ihm: er habe Ulrich gefordert. Er fing an zu lacheb, so laut, daß die Leute aufmerksam wurden. Ob ich ihn für toll halte? Er habe mehr zu thun, als sich mit solchen Nqrrenspossen abzugeben, und noch viel der Art. Ich wurde ein wenig beruhigt, es klang Alles so lustig und natürlich. Und hernach, bei Tisch, war er so freundlich und aufmerksam und sagte, ich hätte Recht, böse auf ihn zu sein, weil er mich so mit Herrn von Vogtriz quäle. Er wolle das auch in Zukunft nicht mehr thun. Er wolle mir überhaupt mehr Freiheit geben; er sehe, mit Zwang sei bei mir nichts auszurichten. Und dabei trank er mir zu – der Heuchler!“

„Weiter! weiter!“

„Ich weiß nichts mehr; ich habe ihn gestern nur flüchtig gesehen; und da ist er eben so freundlich gewesen wie vorgestern Abend; aber er ist ein solcher Komödiant!“

Ich ging verstört im Zimmer auf und ab. Sicher verhielt die Sache sich so, wie Christine fürchtete. Das heitere Wesen, welches Lamarque hernach ihr gegenüber zur Schau getragen, bewies in der That nichts. Ich wußte, daß der Mann Haltung und Miene völlig in der Gewalt hatte bei aller wilden Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, welche sich in der Liebe eben so wenig ersättigen konnte wie im Haß. Dazu seine Meisterschaft in der Führung jeder Waffe, die ihn zu einem fürchterlichen Gegner machte, selbst einem Ulrich, den er zweifellos mit seinem grimmigsten Haß verfolgte. Endlich das räthselhafte plötzliche gleichzeitige Verschwinden Beider, das aus diese Weise freilich sich sehr einfach erklärte. Es konnte nicht anders sein: sie hatten sich irgendwo außerhalb ein Rendez-vous gegeben, und der Handel war vermuthlich jetzt bereits entschieden mit blutig-tödlichem Ausgang für den Einen oder den Anderen, vielleicht für Beide!

Christine hatte mir meine Sorge vom Gesicht abgelesen; sie brach in heftiges Weinen aus.

„Wenn er stirbt – das überlebe ich nicht,“ schluchzte sie.

Ich hatte ein bitteres Wort auf der Zunge; aber was ihr Leichtsinn auch verbrochen haben mochte, dies war nicht der Augenblick, es ihr vorzurücken.

So suchte ich sie denn zu beruhigen. Es seien ja doch nur Muthmaßungen, Möglichkeiten. Wir müßten uns eben in Geduld fassen, da wir leider sonst nichts thun könnten.

In demselben Augenblick fiel mir ein, daß, wenn Ulrich vor dem Gange, der sein letzter sein konnte, von irgend Jemand auf der Welt zuvor Abschied genommen, es zweifellos von Maria war.

„Ich werde sehen, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen,“ sagte ich zu Christine.

„Wo? von wem?“ rief sie. Und als ich mit der Antwort zögerte: „von Fräulein von Werin?“

„Es ist eine Möglichkeit,“ sagte ich.

„Möglichkeit?“ rief sie. „Als ob ich nicht wüßte, daß er sie immer geliebt hat, daß ich für ihn bloß ein Spielzeug bin! Wenn er stirbt, sie ist schuld daran, die hochmüthige Prinzessin, nicht ich! Und ich werde nicht seinethalben sterben! Ich werde Lamarque heirathen; ich –“

Sie war aufgesprungen, hatte Muff und Taschentuch, die sie neben sich auf den Tisch gelegt, an sich gerafft und war dicht vor mich hingetreten: „Ich will mich freuen, wenn Lamarque ihn todtschießt, den elenden Verräther!“

Sie war zum Zimmer hinaus; ich hörte draußen die Flurthür öffnen und wieder zuschlagen.

Fast in demselben Augenblick wurde geklingelt. Wollte sie ihr Rasen fortsetzen? wollte sie widerrufen, was sie in ihrer Raserei gesagt?

Das Mädchen war zu öffnen gegangen. Ein hastiger Schritt kam über den Flur, die Thür flog auf –

„Mutter!“

„Ja. Du mußt mich begleiten – zu Maria!“

„Hat sie Nachricht von Ulrich? Ist er todt?“

„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.“

„Was ist es dann?“

„Es ist allerdings Jemand todt – Jemand, der Dir sehr werth war.“

„Doch nicht Maria? Um Gotteswillen!“

„Nein. Du bist ja ein Mann. Da!“

Sie hatte mir ein Blatt gegeben, von dem ich, an das Fenster eilend, nur noch eben lesen konnte:

„Meine Mutter ist todt. Eben hat man mir ihre Leiche gebracht. Kommen Sie zu mir, wenn es möglich ist, mit Lothar.

Maria.“

„Mein Wagen hält unten,“ sagte meine Mutter.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_675.jpg&oldid=- (Version vom 18.11.2022)