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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Mit halb niedergesenktem Kopf und schlappen Gehören stand der offenbar Schwerkranke da, ohne sich nur zu rühren, während der ihm den Weg sperrende Teckel nicht müde ward, ihn giftig anzueifern. Vorsichtig, um den Festgebannten nicht etwa von meiner Seite her rege zu machen, suchte ich zuvörderst ungesehen Deckung hinter einem vor mir liegenden Felsblocke zu gewinnen, wobei ich zugleich auf passende Schußweite herankam. Hier holte ich nun erst in tiefen Zügen frischen Athem, denn vom raschen Lauf und vor Aufregung wollte es mir schier die wogende Brust zersprengen. Dann aber, unter allerhand Freischützgelübden für das Gelingen meines Schusses, nahm ich die Büchse an den Kopf. Doch hierbei ward mir’s plötzlich wie Nebel vor dem Auge, so daß ich das Zeug auf dem Rohre nicht zusammen zu bringen vermochte – und wenn es mein Leben gegolten hätte. Zum Glücke fielen mir noch rechtzeitig die mahnenden Worte meines Herrn ein: mir Ruhe beim Schießen bewahren zu sollen, und da ja doch der Hirsch noch unbewegt an seiner Stelle stand, so setzte ich wirklich die Büchse wieder ab, schnappte noch ein paar Mal nach frischer Luft – und die noch gestochene Büchse lag von Neuem am Backen. Diesmal bemeisterte ich jedoch insoweit meine Erregtheit, daß ich klaren Blickes blieb und ohne Schwanken Visir und Korn zusammenbrachte, damit auch gut auf den Hirsch abkam. Im Nu berührte dazu der Finger den Abzug, und dröhnend durchhallte der Schuß die hellhörige Herbstluft.

Deutlich hatte ich hierbei den Kugelschlag gehört, das war aber auch Alles, was ich wahrgenommen. Ob der Hirsch aber auf den Schuß gezeichnet hatte, war mir vor Pulverdampf, vielleicht auch nur durch meinen fieberhaften Zustand, in welchem ich mich noch immer befand, gänzlich entgangen. Um so heftiger erschrak ich, als ich im nächsten Augenblick durch den sich verziehenden Rauch Aussicht gewann und den Hirsch, wie einen Gefeiten, noch immer aufrecht vor mir stehen sah, gerade wie zuvor. Natürlich glaubte ich gefehlt zu haben, umsomehr, als er ganz plötzlich, noch ehe ich an das Wiederladen der Büchse nur gedacht, sich wendete, als wolle er den Hund abschlagen. Dabei kam aber der rege Gewordene ins Wanken und dem Rand der niedergehenden Wand so nahe, daß er sich nicht erhalten konnte – und jäh, kopfüber, stürzte der Stattliche hinab in die bewaldete tiefe Schlucht unter ihm. Noch sah ich den Hochgeweihten in die Wipfel der alten Fichten und Tannen, die sich wie zum Fange entgegenstreckten, aufschlagen und ein Rauschen, Krachen und Brechen folgte diesem Fall – dann war’s wieder so still wie zuvor.

Staunend über das eben Geschehene, aber auch in wahrer Herzenspein darüber, stand ich starr und rathlos da, nicht wissend: hatte den nun Gefällten meine Kugel dazu gebracht, oder war es nur der Knall gewesen, der den Schwerkranken zum letzten Fluchtversuch aufgerüttelt und dabei ihn zu Falle hatte kommen lassen. Ich glaubte das Letztere. Vor der Hand kam ja aber hierauf nichts an. Darum zögerte ich auch nicht, um so rasch wie nur möglich zurück zu meinem Herrn zu kommen, ihm die Sachlage zu melden. Fast athemlos traf ich bei ihm ein, daß ich kaum meinen Bericht hervorzustammeln vermochte. Als dies doch so gut und ausführlich wie möglich geschehen und ich auch meine bange Vermuthung nicht verschwiegen hatte, ward mir erst Wieder einigermaßen leichter ums Herz; denn ruhig und ganz befriedigt erwiderte der heute nun einmal ganz ungewöhnlich gütig gestimmte Alte darauf: ,Nun, das ist jetzt einerlei, ob todtgeschossen oder todtgestürzt. Jedenfalls liegt der Schwerenöther verendet unten und kann uns nun nicht mehr entgehen. Ehe wir aber dort ’nunter kraksen‘, fuhr er fort, ,magst Du erst nach der hinteren Salzlecke springen. Dort sind heute die Holzmacher beim Durchforsten von Fichtenstangen beschäftigt. Von denen bringst Du drei bis vier Leute mit hierher – sollen aber Schiebbock und ihr Zeug mitbringen – und dann steigen wir Alle zusammen hinunter zu dem Satansbraten, um diesen gleich ins Forsthaus schaffen zu lassen. Also vorwärts! Ich erwarte Euch hier.‘

Rasch kam ich auch diesem Befehle nach, so daß ich gar bald wieder mit den Arbeitern zur Stelle war. Sofort ward von hier aus aufgebrochen, um den Abstieg in die betreffende Schlucht vorzunehmen. Nachdem dieser ohne allzu große Beschwerde gelungen und wir zu der verhängnißvollen Oertlichkeit gekommen, wo den Umständen nach der niedergegangene Hirsch sich vorfinden mußte – da forschten wir doch vergeblich nach diesem. Wohl fanden wir hier frisch abgebrochenes Geäst und Reisig in Menge vor, doch sonst weiter keine Spur des Gesuchten. Unwillkürlich richteten sich nun Aller Blicke hinauf nach der Wand, über welcher der Vermißte gestanden hatte, in der Hoffnung, ihn etwa irgendwo zu sehen; doch Keiner entdeckte ihn dabei.

Da, ich traute erst meinen Augen kaum, gewahrte ich den Ersehnten, wo ihn Niemand vermuthet, inmitten des knorrigen Geästes einer riesigen Tanne, und zwar derjenigen, an deren Fuße – ich stand. Mit dem Geweih und den Läuften verklammert und verschränkt hing der Edle hier hoch oben im Grünen – ein Anblick, wie er sonderbarer kaum gedacht werden konnte. Jetzt stand uns nun die Aufgabe bevor, den endlich Aufgefundenen aus seiner immerhin noch hohen Region herunterzuholen. Wie dies aber anfangen? Nun, ich ließ es mir, als Jüngstem und gewandtem Kletterer, nicht nehmen, den mächtigen Baum zu ersteigen. Ich zog dabei das Ende eines langen Seils nach und schlang es vorerst dem Hirsch an die mir zunächst erreichbaren Hinterläufe. Dann löste ich Geweih und Vorderläufe aus dem Astgewirr, und während nun die Leute unten anzogen, half ich mit allen meinen Kräften nach, die ungefüge Last vor erneutem Hängenbleiben zu bewahren. Unter solchen Bemühungen und durch die eigene Schwere des kapitalen Burschen kam dieser denn auch bald ins Rutschen, und während noch mancher Ast nachbrach, schlug er endlich dröhnend zu Boden.

Aufs Schnellste, um doch endlich zu erfahren, ob meine Kugel ihre Schuldigkeit gethan, sprang ich mehr, als daß ich abstieg, von Ast zu Ast und zuletzt ins weiche Moos hinab, dicht neben die nun errungene Beute hin, hier mich endlich nach Herzenslust an deren unbehindertem Anblick zu weiden. Doch noch ehe dies geschehen konnte und als ich mich noch hoch in den Aesten befand, rief mir mein guter Herr und Meister schon frohgemuth zu: ,Brav hingehalten, einen Mordstreffer gethan!‘ Dann aber, wie ich wieder auf Grund und Boden vor ihm stand, empfing er mich mit biederem Händedruck und beglückwünschte mich zu meinem ersten Hirsch, dem meine Kugel so recht auf dem gehörigen Flecke, dicht hinter dem Blatt, ein wenig kurz saß, während die meines Herrn wirklich, wie von ihm vorausgesagt, hoch hohl unter dem Rücken durchgegangen war. Nachdem ich mich so von meinem Glück überzeugt, bückte sich mein heute so freundlicher Herr und Gönner und schnitt dem Hirsch die Haken[1] aus dem Geäse, überreichte sie mir als wohlverdiente Trophäen und steckte mir dazu auch noch eigenhändig einen Tannenbruch auf den Hut. Dabei sah man dem Guten die unverkennbare Freude über meine Freude an. Und als ich ihm darauf für all das Liebe und Freundliche, was er mir heut’ angethan, von ganzem Herzen gedankt, auch ihm zugleich meinen Gegenglückwunsch zu seinem Hirsch dargebracht, da ich dem Angeschossenen ja nur den Fangschuß gegeben und denselben also nach gutem Jägerrecht nicht als von mir erlegt betrachten dürfe – da zerstreute der brave alte Mann den über meine helle Freude gekommenen Schatten in wahrhaft väterlicher Weise durch die Versicherung: daß er den Hirsch als allein von mir geschossen betrachtete. Sein Schuß säße ja nicht unzweifelhaft tödlich, während meine Kugel den Hirsch auch ohne dessen Absturz unfehlbar nach Minuten schon zur Verendung gebracht haben würde. Mithin sei ich allein der eigentliche wahre Hirschtödter. ,Und,‘ fügte er lächelnd hinzu: ,damit Du Teufelskerl mir dadurch nicht etwa gar zu übermüthig wirst, so spreche ich mir das Geweih für meinen Anschuß zu – und damit basta!‘

Wer war glücklicher als ich!“

Mit diesen Worten endete mein lieber väterlicher Freund Oberförster ebenso regelmäßig seine Geschichte, wie er auch niemals die Eingangsformel derselben veränderte. Ebenso einmal wie allemal aber deutete er nach Schluß seiner Erzählung auf einen stattlichen Zwölfender über dem Spiegel und bemerkte hierzu nur noch: „Das ist das Geweih von jenem Urian, der mir einst so viele Sorge und doch auch wahrhaft hohe Freude bereitet hat. Deßhalb habe ich mir es aber auch nach dem Tode meines unvergeßlichen Herrn von dessen Erben zu verschaffen gewußt, und es soll allezeit der Hauptschmuck meines Hauses bleiben.“


  1. Haken nennt der Jäger die zwei dem Edelwild eignen Zähne im Oberkiefer. Sie werden manchmal an der Uhrkette getragen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_671.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)