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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 38.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der März zeigte sich diesmal von einer sehr unfreundlichen Seite. Nachdem er mit einigen schönen sonnigen Tagen eingezogen war, hüllte er die Stadt wochenlang in einen grauen Nebel und Regenmantel; im Freien starben die ersten Knospen vor Kälte und Nässe, und hinter den Fenstern blickten die Menschen verdrießlich in den Lenzmonat, der seinem Namen so wenig Ehre machte.

Es war an einem jener Regennachmittage, als Graf Raoul Steinrück die Treppe eines Hauses in dem vornehmeren Stadttheil emporstieg und im ersten Stockwerk die Klingel zog. Er mußte dem Diener, der ihm die Thür öffnete, wohl genau bekannt sein, denn dieser verneigte sich auf die Frage, ob Herr de Clermont zu Haus sei, nur bejahend und ließ den Besuch ohne jede Anmeldung ein.

Der junge Graf trat in den Salon, der trotz seiner eleganten Einrichtung doch die Behaglichkeit vermissen ließ. Alles was die Mode forderte, war vorhanden, dagegen fehlte Alles und Jedes, was auf ein persönliches Verhältniß der Bewohner zu den Räumen deutete. Es war eine jener Einrichtungen, die ewig auf der Wanderung sind, die für einen längeren oder kürzeren Aufenthalt zur Verfügung gestellt werden, um dann nach einiger Zeit wieder andere Räume zu füllen und anderen Personen zu dienen.

Beim Eintritt des Grafen wandte sich ein junger Mann, der am Fenster gestanden hatte, rasch um und kam ihm mit lebhafter Begrüßung entgegen.

„Da bist Du ja, Raoul! Wir hatten heute schon darauf verzichtet Dich zu sehen.“

„Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit,“ versetzte Raoul, der Hut und Ueberrock bereits draußen abgelegt hatte und sich jetzt in einen Sessel warf, mit einer Zwanglosigkeit, die verrieth, daß er hier völlig zu Hause war. „Ich komme direkt aus dem Ministerium.“

„Und da hat der künftige Staatslenker natürlich üble Laune mitgebracht,“ sagte Clermont lachend. „Wichtige Regierungsgeschäfte – dagegen muß sich Unsereiner freilich bescheiden.“

Die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. Henri de Clermont war vielleicht einige Jahre älter als Graf Steinrück, eine schlanke, elegante Erscheinung, die etwas ungemein Gewinnendes hatte; nur stand die harmlose Liebenswürdigkeit seines Wesens nicht recht im Einklange mit dem scharfem Blick der dunklen Augen, die an das Beobachten gewöhnt zu sein schienen. Sie hafteten auch jetzt forschend auf dem Gesichte Raoul’s, der unmuthig erwiderte:

„Staatslenker – Regierungsgeschäfte – ja wohl! Wenn Du nur wüßtest, durch welch eine endlose Wüste von Trockenheit und Langeweile man sich da erst hindurcharbeiten muß! Seit einem

Erste Kunstleistung. 0 Nach dem Oelgemälde von G. Igler.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_665.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)