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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Plötzlich erweitert sich der Gang, und man steht in der „blauen Grotte“. Es ist ein mächtiger Raum aus künstlich geschaffenem Fels (siehe Abbildung S. 648 und 649); Tropfsteingebilde hängen von der Höhe nieder und steigen aus dem dunklen Spiegel eines unterirdischen Sees empor, der sich vor uns ausbreitet. Von links her fällt durch eine halbrunde Oeffnung ein magisches blaues Licht in die Grotte; zur Rechten schäumt ein Wasserfall über die Felswand herab. Fremdartig flimmert und glitzert das Ganze in verschiedenfarbigem Lichte. Im tiefsten Hintergrunde der Grotte erscheinen phantastische halbverschleierte Gestalten; es ist ein kolossales Bild „Tannhäuser im Venusberge“. Rosenguirlanden hängen von oben herab und schlingen sich durch die Felszacken. Ein vergoldetes, in Form einer Muschel gebautes Schiffchen, mit schnäbelnden Täubchen und einem kleinen Amor verziert, schaukelt sich auf dem leicht bewegten Wasser. In diesem Fahrzeuge ließ sich der König oft über den unterirdischen See rudern, während die Felsen der Grotte von elektrischen Lichtern in buntem Glanze durchspielt wurden; oder er stieg an der Felswand hinauf zu dem etwas erhöhten Königssitze, welcher, von Rosengewinden umschlungen, ebenfalls einer Riesenmuschel gleicht, und schaute von hier aus auf diese eigenartigste Schöpfung seiner Phantasie hinunter.

Diese Grotte, deren sinnberückende Täuschungen ein eigenes Maschinenhaus erforderlich machten, ist ohne Zweifel das bekannteste unter dem, was Schloß Linderhof enthält, und wohl auch das, was vom großen Publikum am meisten angestaunt wird. Aber weder vor dem künstlerischen Scharfblicke noch vor den Augen des wahren Naturfreundes kann sie bestehen. Das ist Alles Blendwerk, nur für Theaterlichter berechnet. Rosenguirlanden von Papier, Felsen von Sand und Cement, gemalte Geistererscheinungen und physikalische Beleuchtungskunststückchen – tief verstimmt von all dem verläßt man die Grotte, selbst wenn man sich momentan der berückenden Sinnestäuschung hingab. Und diese Verstimmung, ein seltsames Ergebniß der irrenden spielenden Phantastik von Linderhof und der Erinnerung an König Ludwig’s trauervolles Ende, hält nach, bis das Schlößchen mit seinen Wassern und Blumen, seinen verödeten Räumen und entschleierten Geheimnissen meilenweit hinter uns liegt, bis endlich der frische Hauch des Bergwaldes und das kraftvolle Rauschen der Wildbäche die beklemmte Brust wieder frei aufathmen läßt.



Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben.

Reise-Erinnerungen eines alten Orient-Fahrers.
Von Karl Braun-Wiesbaden.

Wir, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, haben Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie Staaten entstehen und wie Staaten vergehen; wie kleinere Staaten in einen größeren aufgehen, in Italien und Deutschland; und wie ein großer Staat im Begriff ist, sich in seine Bestandtheile aufzulösen, die sich ihrerseits wieder als neue Staaten konstituiren, in der Türkei.

Wie ein Staat entsteht, das haben wir z. B. in Texas gesehen; und die, welche nicht an Ort und Stelle waren, die können es nachlesen in den vortrefflichen Romanen von Charles Sealsfield, der mit seinem wirklichen Namen Karl Postl hieß und, nachdem er in Prag den Chorherrnrock ausgezogen, in Amerika Vieles erlebt, gut beobachtet und anschaulich geschildert hat. Siehe „Das Kajütenbuch oder nationale Charakteristiken“, „Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre“ etc.

Wir sehen bei Sealsfield, wie sich in Texas inmitten einer großartigen und mächtigen Urnatur ein Hinterwälderleben entwickelt, dessen einzelne Personen unter den engen Verhältnissen der alten Welt entgleist sind, oder keine Stelle mehr fanden an der großen Tafel europäischer Kultur, die Viele nährt, aber nicht Alle, und die sich genöthigt sieht, diejenigen auszustoßen, die sich den Gesetzen des Staates und der Gesellschaft nicht fügen und dadurch den Schutz und die Wohlthaten dieser Gesetze verwirken. Wir nennen das „den Auswurf der Gesellschaft“. Der Ausdruck mag richtig sein, wenn man die Sache nur von der einen Seite betrachtet.

Er erinnert mich an ein geflügeltes Wort des Lord Palmerston: „Schmutz ist ein nützlicher Gegenstand am unrichtigen Orte; man muß ihn nur an den richtigen Platz bringen – aus der Stadt auf die Felder.“

So ist es mit jenem „Auswurf der Gesellschaft“. Er hielt die alte Kultur für einen beengenden Käfig, gegen dessen Gitter er tobte und dem er endlich, mehr oder weniger freiwillig, entflohen. Nun schwirrt er umher in den ungemessenen Räumen der Wildniß. Anfangs beschleicht ihn ein Bangen; denn er ist allein auf sich selbst angewiesen, und die gänzlich veränderte Umgebung mit ihrer Schrankenlosigkeit und ihrer scheinbaren Regellosigkeit verwirrt ihn. Sie macht Ansprüche an seine Kräfte, welchen genügen zu können er anfangs verzweifelt. Aber im Kampf versucht er seine Kräfte; und jeder gelungene Versuch erhöht sein Vertrauen und verleiht seinem Geist und seinem Körper eine außergewöhnliche Schwungkraft. Er gewöhnt sich an Entbehrungen und Gefahren. Der Kampf mit einer wilden Natur, mit wilden Thieren, als da sind Cuguare und Bären, Alligatoren und dergl., und mit Wilden, die, obwohl Menschen, nicht viel besser sind, als jene Thiere, erweckt in ihm aufs Neue den früher erloschenen Kulturtrieb. Er thut sich mit seinen Schicksalsgefährten, den übrigen hinterwäldler Ansiedlern, den Squatters, zusammen. Sie erwählen sich ein Oberhaupt, den Squatter-Regulator, und bilden ein Gemeinwesen, um die Gefahren der Wildniß zu bekämpfen. Ein Jeder von ihnen führt den Pflug und zugleich auch die Waffen. Ein Jeder ist Kultivator, ein Jeder Soldat, und ein Jeder Polizeimann oder Policeman. Und so kommt Er, der der alten Kultur entronnen, schließlich dazu, eine neue Kultur zu begründen, die jedoch himmelweit verschieden ist von der alten; und aus dieser neuen Kultur erwächst ein neuer Verband, eine neue Gesellschaft und schließlich ein neuer Staat, der sich einem größern Staatsverband anschließt, um dessen Machtschutz zu genießen, aber sich dabei doch alle die Rechte und Freiheiten zu bewahren, die er nöthig hat für seine eigenthümliche politische Entwickelung.

So ist, ohne daß die Welt es für nöthig erachtet hätte, dies interessante Schauspiel mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, unter unseren Augen auf der westlichen Hemisphäre ein neuer Staat entstanden. Gleichsam ohne menschliches Zuthun, ohne Beistand einer Regierung, ohne Eroberung oder Gründung, ohne Plan und ohne vorausbedachte Absicht. Denn Diejenigen, welche ihn aufrichteten, waren ja dem alten Staate aus dem Wege gegangen. Aber da, wie schon der große Philosoph Aristoteles sagte, der Mensch von Natur ein „politisches Geschöpf“ ist, so gründeten sie statt des alten Staates einen neuen, von wesentlich anderem Gepräge, wie solches eine alte Regierung niemals fertig gebracht hätte.

Während wir so im fernen Westen einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft entstehen sahen, erblicken wir in unserer unmittelbaren Nähe, im Südosten Europas, einen Staat, der mit raschen Schritten seinem Zerfalle entgegengeht, weil er die ihm gestellten Aufgaben nicht zu erfüllen vermochte. Ich meine die Türkei. Die türkische Rasse hat vortreffliche Eigenschaften. Der gemeine Türke ist genügsam und ehrlich. Als Soldat ist er zuverlässig und tapfer. Er versteht nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu hungern. Er bedarf keiner Spirituosen, um sich Muth zu trinken. Sein Glaube verbietet ihm solches. Aber derselbe Glaube ist es auch, der ihm ein solches Gottvertrauen verleiht, daß er vor keinen Gefahren zurückbebt. Trotz dieser vortrefflichen Eigenschaften der mittleren und unteren Volksschichten ist aber der türkische Staat, soweit er auf europäischem Boden etablirt ist, krank, sehr krank, und selbst die guten Freunde, welche er immer noch findet, werden eine schwere Aufgabe haben, wenn sie das immer näher rückende Verhängniß aufhalten wollen.

Vor dreißig Jahren noch war die „orientalische Frage“ das große Räthsel Europas. Man schreckte vor ihr zurück wie vor dem Haupt der Medusa. Man glaubte, irgend ein einzelner Staat, sei es Rußland, sei es Frankreich, oder Beide zusammen, werde sich der Türkei bemächtigen, und da dies die übrigen Mächte nicht zugeben wollten, könnten und dürften, müsse aus diesem Zerwürfniß ein Weltbrand erwachsen, der Europa aus dem Gleichgewicht bringen und allerwenigstens dem vielgerühmten „europäischen Koncert“ ein Ende mit Schrecken bereiten werde. Man schätzte jedes Jahr Aufschub für einen Gewinn und gewöhnte sich daran, aus der Hand in den Mund zu leben. Seitdem haben uns die Ereignisse immer näher herangebracht zu der befürchteten Katastrophe, und je näher dieselbe gerückt ist, desto mehr hat sie ihren schreckhaften Charakter verloren.

Fast möchte ich sagen: Der Mensch ist gleich einem Reitpferd. Das Thier scheut vor dem Unbekannten. Je ruhiger man es aber an den Gegenstand seiner Furcht und Scheu heranbringt, je mehr man ihm Gelegenheit giebt, denselben, ich möchte fast sagen zu „studiren“, desto mehr schwindet sein Schrecken.

So ist es uns mit der orientalischen Krisis gegangen. Unsere Angst vor derselben ist zum größeren Theile unserer Unkenntniß entsprungen.

Wir glaubten bisher in Europa, der Sultan sei Herr über sein Land, etwa wie der König von Frankreich; oder seine Unterthanen seien gleich ihm selber alle „Türken“, das ist Muhamedaner von Religion, Osmanen von Rasse.

Das Gegentheil ist die Wahrheit. Die Mehrzahl der Einwohner sind keine Türken, sondern stets Rumänen, Slawen und Griechen gewesen. Der Türke hat das Land erobert und ist bis heute ein Fremdling in demselben geblieben. Er ist der „Herr“ und die Andern sind die „Raja“, das heißt: das Gesindel. Er schließt diese Raja, das heißt: die eigentlichen Eingeborenen ohne Unterschied der Religion und der Rasse – einerlei ob sie Rumänen, oder Hellenen, Albanesen oder Montenegriner, Serben oder Walachen, Bulgaren oder Bosniaken – einerlei, ob sie römisch- oder griechisch-katholisch, abendländischen oder morgenländischen Glaubens sind – von der Regierung und von dem Kriegsdienste aus. Anstatt Kriegsdienste zu leisten, zahlen sie ein Kopfgeld. Daneben sind sie schwer mit Zehnten und sonstigen Abgaben belastet, und der Druck dieser Lasten wird gesteigert durch das Ungeschick der finanziellen Verwaltung, bei welcher die Steuerpflichtigen das Zehnfache geben von Dem, was die Centralstellen empfangen; die übrigen neun Zehntel bleiben unterwegs hängen, und wenn man dem Vollblut-Türken von der Gleichberechtigung aller Staatsbürger spricht, antwortet er mit einem geflügelten Worte: „Ich bin der Herr – Du bist der Herr – wer soll das Pferd putzen und striegeln?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_662.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2022)