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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ich reichte Ellinor den Zettel, indem ich zugleich sagte:

„Gnädiges Fräulein, Sie werden mich entschuldigen? Nicht wahr?“

Sie brauchte ein wenig länger als ich, den Inhalt zu entziffern, und ich sah, wie sie sich bemühte, vor den Augen des Dieners das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Nun gab sie mir das Billet zurück und sagte: „Gewiß! so leid es mir ist und meiner Tante sein wird.“

Und dann auf französisch:

„Wie ist das möglich? Gleichviel! Ich bitte Dich nur um Eines: denke bei Allem, was geschieht – denke immer an mich!“

Nun wieder deutsch zu dem Diener:

„Führen Sie den Herrn – gleich da!“ – sie deutete auf eine Thür in dem Flur – „Also viel Glück! und auf Wiedersehen!“

Sie eilte den Gang hinab und war im nächsten Augenblick schon durch eine andere Thür verschwunden. Der Diener leitete mich mit großer Beflissenheit durch ein paar leere Räume in die Garderobe, wo er mir in einer kleinen Schar von Leuten, die dort bereits auf ihre Herrschaften mit den Mänteln auf den Armen warteten, den Mann aus dem Hotel bezeichnete, dem ich dann die Treppe hinab vor die Hausthür folgte. Eine Equipage, welche ein paar Schritte seitab gehalten, fuhr schnell vor. Das Herz pochte mir zum Zerspringen, als der Mann jetzt, den Hut in der Hand, die Kutschenthür öffnete und ich eine Dame sah, die sich nun aus der Ecke aufrichtete, indem sie zugleich den Schleier zurückschlug. Ich sprang in den Wagen. Der Diener schloß den Wagen. Ich sank in den Sitz neben ihr, auf welchen sie mich, meine beiden Hände ergreifend, zog:

„Ich danke Dir! ich danke Dir!“

„Mutter –“

„Ich danke Dir tausend-, tausendmal!“

Und ich fühlte zum ersten Male die Lippen der Mutter, nach denen ich mich als Knabe so inbrünstig gesehnt, auf meinen Lippen, die noch vom ersteu Kuß der Liebe zitterten.

11.

Die kurze Strecke von dem Hause der Generalin Unter den Linden bis nach dem Kaiserhof war in kürzerer Zeit zurückgelegt, als ich brauchte, um mich nur einigermaßen wieder zu fassen. Mußte ich doch alle Kraft zusammenraffen, den Leuten im Hotel meine Bewegung nicht zu zeigen. Meine Mutter schritt, nachdem sie dem Portier einige Befehle gegeben, vor mir durch den Vorraum und dann die breite teppichbelegte Treppe hinan. Ich hatte sie nie auf einer anderen Treppe gesehen, als auf der engen mit den siebzehn knarrenden Stufen des alten Hauses in der Hafengasse und dann unweigerlich in ihrem schwarzen klösterlichen Kostüm; und ich fragte mich verwundert, ob die schlanke elegante Dame im pelzbesetzten Paletot von dunkelblauem Sammt und Straußenfeder-Hut, die sich plötzlich wandte und mit unmuthigem Lächeln die kleine Hand in perlgrauem Handschuh in meinen Arm legte, wirklich meine Mutter sei. Aber mir war ja heute Abend bereits ein nicht geringeres Wunder begegnet!

Wir waren in ihrem Zimmer angelangt – einem prächtigen Salon, in welchem auf den Tischen und von Wandkandelabern viele Lichter brannten und in dem großen Kamin ein helles Feuer flackerte. Der begleitende Kellner hatte mir, eine Kammerjungfer, welche bereits im Salon gewartet hatte, meiner Mutter die Sachen abgenommen. Meine Mutter fragte, ob ich bereits zur Nacht gegessen habe? Ich verneinte es, aber ich hatte auch keinen Hunger. Nur um ein Glas Wein bat ich, denn die Kniee zitterten mir, und ich sank halb ohnmächtig in einen der Fauteuils vor den, Kamin, wohin mich meine Mutter geführt hatte. Sie mußte mir meinen Zustand angesehen haben, brachte mir Eaude-Cologne und Riechsalz und schenkte mir selbst von dem Wein ein, in ängstlicher Sorge, trotzdem ich sie der Wahrheit gemäß versichern konnte, daß ich die kleine Schwäche völlig überwunden habe und mich durchaus wohl fühle.

Auch die Kammerjungser hatte sich zurückgezogen, wir waren allein. Meine Mutter saß in geringer Entfernung in einem zweiten Fauteuil mir gegenüber und streckte die Spitzen ihrer feinen Stiefelchen eine nach der andern dem Feuer zu, an das sie auch von Zeit zu Zeit die weißen Hände hielt, das Gesicht halb von mir abgewandt, als wollte sie mir Muße gönnen, wieder ganz zu mir zu kommen und mich an ihren Anblick zu gewöhnen.

Ich habe früher einmal gesagt, daß dem Knaben seine Mutter als das Ideal weiblicher Schönheit erschienen sei; und während ich so die scheuen Blicke auf sie wandte, wie sie in einer anmuthigen Stellung vornübergebeugt dasaß, mußte der Mann den Eindruck, welchen der Knabe gehabt hatte, einfach bestätigen. Die Zeit schien über etwas so Vollkommenes keine Macht zu haben, wie über ein griechisch Götterbild, mit welchem sie in dem Adel und der Reinheit der wunderzarten Linien des nur um ein Weniges überschnittenen Profils und dem herrlichen Schwung der edelschlanken Körperformen, wie sie sich jetzt in der Silhouette scharf von dem lichten Hintergrunde abhoben, getrost wetteifern konnte. Selbst die paar Silberfäden, welche ich früher doch bemerkt hatte, schienen aus dem dunkelglänzenden Haar verschwunden, das jetzt allerdings modisch frisirt war, aber in einer besonderen Weise, wie denn Alles an ihr nach der feinsten Mode und doch besonders war, ihrer Eigenthümlichkeit angepaßt und ihre Schönheit erhöhend. Zugleich bemerkte ich auch jetzt ihre große Aehnlichkeit mit jenem Portrait in der Nonnendorfer Galerie – dem jungen Jägersmann, der ihr Vater gewesen war und dem ich wiederum so ähnlich sein sollte. Die schmeichelhafte Folgerung daraus für mich zog ich aber wahrlich nicht; ich dachte gar nicht an mich; ich war ganz in ihren Anblick versunken, während doch zugleich tausend wirre Gedanken und Bilder durch mein Gehirn jagten, wie einem Träumenden.

Ich mochte unwillkürlich meine Schläfe berührt haben.

„Ist Dir auch wirklich wohl?“ fragte sie theilnehmend.

Ich bejahte es. Sie hatte sich erhoben und war vor mich hingetreten, mich sinnend betrachtend. Dann strich sie mir das Haar aus der Stirn, auf die sie einen Kuß hauchte, ging zu ihrem Fauteuil zurück und sagte, sich wieder setzend, aber ohne mich anzublicken:

„Ich frage nicht, ob es Dich freut, mich hier zu sehen. Für die Empfindungen, die uns in diesem Augenblicke erfüllen, wäre es ein banaler Ausdruck und kein zutreffender, wenigstens nicht für Dich. Deine Freude kann nicht ungemischt und ungetrübt sein.“

„Ist sie es denn für Dich, Mutter?“

„Ich möchte sagen: ja!“ erwiderte sie. „Denn die Wonne, Dich wieder – Dich nur so zu haben, so zu sehen, ist so groß, daß alles Andere, was sich zudrängen will, dagegen klein und nichtig erscheint. Es wird schon wieder kommen, – ich weiß es wohl – vielleicht schon in der nächsten Minute. Diese eine Minute ungetrübter Wonne mußt Du mir gönnen.“

Sie blickte starr vor sich hin, ich konnte mein Herz nicht länger bändigen.

„Mutter, Mutter,“ rief ich, zu ihren Füßen stürzend, „was machst Du aus mir? Ich wollte Dir zürnen und kann es nicht, wie man nicht in die Sonne sehen kann, wenn man auch will. Und hättest Du mir noch tausendmal mehr Leid zugefügt, dies macht Alles wieder gut – diese Minute! Laß auch mich ihre Wonne auskosten bis zum tiefsten Grunde! Sieh, für eine solche Minute hätte ich als Knabe mein Herzblut freudig dahingegeben Tropfen um Tropfen. Ich habe Dich ja so grenzenlos geliebt und wohl nie mehr, als wenn ich am störrischsten Dir Widerpart hielt. Und als Du mich gar verlassen hattest und mich am bittersten gekränkt, und ich mich von Dir verstoßen glauben mußte auf immer, habe ich Dich doch weiter geliebt und mich in der Erinnerung Deiner Schönheit und Holdseligkeit berauscht, wie in der eines lieblichen Traumes, und habe Dein Bild heilig gehalten – hier, hier auf meinen, Herzen hat es geruht all’ diese Jahre. Da hast Du es wieder. Ich brauche es jetzt nicht mehr!“

Und in dem Sturm meiner Leidenschaft hatte ich meine Kleider aufgerissen, das Medaillon abgerissen, das ich stets an einem Bande am Halse trug, und ihr in die Hand gedrückt, während mein Haupt auf ihre Kniee sank und mein Körper in krampfhaftem Schluchzen erzitterte.

Sie ließ mich so ein Weilchen. Dann richtete sie meinen Kopf, ihn in beide Hände nehmend, empor, drückte mir Kuß um

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