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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

beleidigen, Lieutenant Rodenberg; aber ich darf wohl annehmen, daß Ihnen das Leben und die Vergangenheit Ihres Vaters bekannt sind?“

„Ja!“

Das Wort kam kurz und rauh von den bebenden Lippen, aber man hörte doch die innere Qual heraus.

„Es thut mir leid, dem Sohne gegenüber diesen Punkt erwähnen zu müssen, aber er läßt sich leider nicht umgehen. Sie sind ja völlig schuldlos daran, und Sie werden auch schwerlich darunter leiden. Ihr nahes Verhältniß zu dem Professor Wehlau deckt alle unbequemen Nachforschungen. Wie ich höre, gelten Sie für den Sohn seines Jugendfreundes, der in seinem Hause erzogen wurde – ein ganz vorzügliches Auskunftsmittel! Ueberdies ist Ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren todt und hat die letzte Zeit seines Lebens im Auslande zugebracht. Auch ist er – so viel ich weiß – nie in offenen Konflikt mit den Gesetzen gerathen.“

Schneideud scharf wie die Klinge eines Dolches war dies: So viel ich weiß! Michael war todtenbleich geworden, er antwortete nicht, aber ein unheilverkündender Blick schoß auf den Mann, der ihn so erbarmungslos folterte und der jetzt mit derselben kalten, überlegenen Ruhe fortfuhr:

„Die Sache liegt jedoch ganz anders, sobald Sie den Namen Ihrer Mutter nennen. Das wird selbstverständlich ein sehr großes Aufsehen geben, zumal in den Kreisen der Aristokratie und der Armee; es wird ein endloses Gerede entstehen, das peinlich, ja gefährlich werden kann, denn das Gerücht geht in solchen Fällen immer über die wirklichen Thatsachen hinaus, und was ein halbes Menschenalter in Vergessenheit gebracht hat, wird rücksichtslos wieder ans Tageslicht gezogen. Ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie es ertragen können und wollen, wenn das Andenken Ihres Vaters dieser Vergessenheit entrissen wird. Was meine Stellung zu der Sache betrifft, so wende ich mich nur an Ihr Gerechtigkeitsgefühl, das Ihnen sagen wird –“

„Genug!“ unterbrach ihn der junge Officier dumpf, mit halb erstickter Stimme. „Ersparen Sie mir das Weitere, Excellenz. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß diese ganze Erörterung überflüssig ist, denn ich habe nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, Beziehungen geltend zu machen, die ich ebenso entschieden ablehne wie Sie. Ich sollte meinen, das müßte Ihnen schvn unsere erste Begegnung gezeigt haben, wo ich die mir angebotene ,Protektion’ zurückwies. Ich sehe jetzt erst, daß sie der Preis für mein Schweigen sein sollte.“

Die Worte Michael’s waren in tiefster Bitterkeit gesprochen, und seine Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Degens; noch wahrte er seine Selbstbeherrschung, aber es geschah offenbar nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft. Auch der General mochte das sehen und fühlen, denn er sagte mit bedeutend gemilderter Stimme: „Das ist eine ganz irrthümliche Auffassnng. Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht beleidigen wollte.“

„Nicht?“ brach Michael mit schneidender Heftigkeit aus. „Und was ist denn diese ganze Unterredung Anderes, als eine Beleidigung vom Anfang bis zum Ende? Oder wie nennen Sie es denn, wenn man einem Sohne dergleichen über seinen Vater anzuhören giebt und ihm zugleich in dieser schonungslosen Weise klar macht, daß auch er dadurch den Anspruch auf Ehre verwirkt hat? Ich kann meinen Vater nicht vertheidigen und nicht rächen, er hat mir die Möglichkeit dazu genommen, und Sie meinen, ich litte nicht unter diesem Bewußtsein! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast daran zu Grunde gegangen bin, bis ich mich aufraffte, um den Kampf mit diesem Schatten zu wagen. Noch stehe ich im Anfange meiner Laufbahn, noch habe ich nichts geleistet; wenn einmal ein ganzes Leben voll ehrenhafter Arbeit und Berufserfüllnng hinter mir liegt, dann wird auch jener alte Schatten weichen. Die Menschen sind ja nicht alle so erbarmungslos wie Sie, Graf Steinrück, und sie haben, Gott sei Dank, auch nicht alle ein Wappenschild, das vor ,Verdunkelungen’ behütet werden muß!“

Der General erhob sich plötzlich; er nahm jene gebietende Haltung an, die ihm eigen war, wenn er irgend eine Anmaßung oder Ueberhebung in ihre Schranken zurückwies.

„Mäßigen Sie sich, Lieutenant Rodenberg! Sie vergessen, vor wem Sie stehen.“

„Vor meinem Großvater! Und der wird es wohl auf einige Minuten vergessen können, daß er zugleich mein General ist. Fürchten Sie nichts: es ist das erste Mal, daß ich Sie so nenne, und es wird auch das letzte Mal sein, denn für mich haftet nichts Theures und Heiliges an diesem Namen. Meine Mntter starb in Noth und Elend, in Jammer und Verzweiflung; aber sie öffnete nicht ein einziges Mal die Lippen zu einer Bitte an den, der sie und ihr Kind mit einem Worte hätte retten können – sie kannte ihren Vater!“

„Ja, sie kannte ihn!“ sagte Steinrück hart. „Als sie dem Vaterhause entfloh, um das Weib eines Abenteurers zu werden, da wußte sie, daß nunmehr jedes Band zerrissen war zwischen ihr und der Heimat, daß es keine Rückkehr und keine Versöhnung mehr gab. Will sich ihr Sohn jetzt anmaßen, die Strenge eines tiefbeleidigten Vaters zu richten?“

„Nein,“ entgegnete Michael, das Auge voll und finster auf ihn richtend. „Ich weiß, daß meine Mutter Ihnen offenen Trotz geboten, daß sie Heimat und Familie verwirkt hatte, und wenn das Herz des Vaters nicht mehr sprach, sondern nur sein Recht, so mußte er sie vielleicht verstoßen. Aber ich weiß auch, daß ihre schwerste Schuld die war, daß sie einem bürgerlichen Abenteurer folgte. Wäre es ein Standesgenosse gewesen, der verlorene und verkommene Sohn irgend einer Adelsfamilie, man hätte sie nicht so unerbittlich gerichtet, man hätte ihr im Unglück wieder die väterlichen Arme geöffnet, und ihrem Sohne würde das Andenken seines Vaters jetzt nicht wie ein Schimpf vorgehalten. Ich wäre ja doch der Erbe eines alten Nameus gewesen – alles Andere hätte man sorgfältig zugedeckt. Zum Mindesten hätte man mich nicht den Händen eines Wolfram überantwortet, in der Absicht, mich dort verkommen zu lassen!“

Die Augen des Generals sprühten, aber er gab es auf, den jungen Officier noch ferner als einen Fremden zu behandeln; er sprach jetzt im vollsten Zorne, aber er sprach zu seinem Enkel.

„Nicht weiter, Michael! Ich bin es nicht gewohnt, daß man in solchem Tone zu mir redet. Was wagst Du mir zu bieten!“

„Was ich vertreten kann, denn es ist die Wahrheit!“ erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. „Es wäre Ihnen ein Leichtes gewesen, den verwaisten Knaben, den Sie nun einmal nicht vor Augen sehen mochten, in irgend eine ferne Erziehungsanstalt zu bringen, wo Sie nichts weiter von ihm sahen und hörten, wo er aber doch wenigstens tauglich für das Leben wurde, aber er sollte eben nicht dafür taugen. Darum wurde ich festgebannt in einem rohen und gemeinen Kreise, wo Mißhandlungen und Schimpfworte der einzige Unterricht waren, den ich empfing, wo jedes geistige Element unterdrückt, jede Anlage zertreten wurde, wo es eigens darauf angelegt war, mich zu dem rohen, blöden Buben zu machen, der sein Leben verdämmern und verdummen sollte in den Wäldern. Dann war ja die Gefahr ausgeschlossen, daß ich jemals dem edlen Steinrück’schen Kreise nahte; dann mußte ich dankbar sein, wenn man mir schließlich irgend eine Bauernexistenz gewährte! Eine fremde Hand entriß mich jenem Elend; einem Fremden danke ich die Erziehung, die Lebensstellung, in der ich jetzt vor Ihnen stehe – meinen Blutsverwandten hätte ich nur den geistigen Tod zu danken gehabt!“

Steinrück schien sprachlos zu sein über diese unerhörte Kühnheit, aber es war noch etwas Anderes, was ihm die Lippen schloß. Schon einmal, vor Jahren hatte er Aehnliches hören müssen; der Priester hatte ihm ernst und mahnend den gleichen Vorwurf gemacht. Jetzt wurde er ihm mit flammender Energie ins Gesicht geschleudert, und die Anklage kam aus dem Munde dessen, den er allerdings hatte unschädlich machen wollen durch eine „Bauernexistenz“. Graf Michael war sonst nicht der Mann, der einer Anmaßung oder Beleidigung gegenüber verstummte; hier fehlte ihm die Antwort, denn er fühlte die Wahrheit jener Vorwürfe. Wenn er sich damals seine Handlungsweise nicht völlig klar gemacht hatte, so wurde sie ihm jetzt wie in einem Spiegel gezeigt, und es war ein häßliches Bild, das dort erschien, ein Bild, welches des stolzen Grafen unwürdig war.

„Du scheinst Wolfram’s Erziehung doch nicht gänzlich vergessen zu haben,“ sagte er endlich herb. „Willst Du mir vielleicht wieder eine Scene machen, wie damals in Steinrück? Dein Aussehen ist ganz danach.“

Er hätte nichts Schlimmeres thun können als dies Andenken wachrufen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, aber Michael’s Blut siedete noch bei der Erinnerung, welche ihn nur zu neuer Empörung aufstachelte.

„Damals nannten Sie mich Dieb!“ stieß er hervor. „Ohne Beweis, ohne Untersuchung, auf einen haltlosen Verdacht hin!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_630.jpg&oldid=- (Version vom 27.9.2022)