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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Hatten am Morgen und gegen Mittag Phantasie und Sinne geschwelgt in Genüssen, wie sie nur die edle Kunst zu bieten vermag, hatte am Nachmittag die festlich geschmückte Stadt ein buntbelebtes Bild des Wogens und Treibens von Menschenmassen, wie vielleicht nie seit ihrer Entstehung, geboten, so folgte am Abend ein Geist und Gemüth erquickendes Fest: der allgemeine Studentenkommers. Denke man sich die Festhalle mit Ehrengästen, Professoren und Studenten bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt, in elektrischem Lichte strahlend Tausende von bunten Mützen und Zehntausende leuchtender Menschenaugen: da erscheint der Rector magnificentissimus, der Großherzog, von seinem Gefolge umgeben. Alles erhebt sich, donnerndes Hoch empfängt ihn; in echt studentischer Weise wird der Kommers durch einen Riesensalamander eröffnet, den der Vorsitzende Stud. Klaus kommandirt und der mit unerhörter Präcision – ein treffliches Omen für die akademische Einigkeit! – exercirt wird. Dann folgt das Scheffel-Lachner’sche Festlied, ein allgemeiner Cantus, und darauf der Trinkspruch des Großherzogs auf den deutschen Kaiser. Unbeschreiblich ist die Wirkung dieser sonoren, in die entferntesten Winkel des Saales und der Herzen dringenden Worte. Tiefernst und patriotisch warm stellen sie der studirenden Jugend das erhabene Beispiel des pflichterfüllten greisen Helden vor Augen.

Ein dreimaliges, markerschütterndes Hoch auf Wilhelm den Siegreichen durchdringt die Halle und mischt sich mit dem Vivat der draußen harrenden Volksmenge. Es folgen, immer abwechselnd, Lieder und Toaste auf den Großherzog, das Ministerium, die Stände, die Gäste, Fürst Bismarck, die Studentenschaft, Altheidelberg, die Professoren, die Armee, die Studenten in Waffen – aber keiner von allen ist mehr im Stande, eine so mächtige Wirkung zu erzielen, wie der des Rector magnificentissimus, der bis Mitternacht den Ehrensitz unter seinen lieben jungen und alten Studenten behauptet.

Am Sonnabend folgten verschiedene Ausflüge der einzelnen Korporationen nach allen Richtungen der Windrose. Neckarsteinach, der Kümmelbacherhof, Kohlhof, Ziegelhausen, Wolfsbrunnen werden per Bahn, zu Wagen und zu Fuß aufgesucht. Besonders aber die „Tante Felix“ in Handschuchsheim, eine in weitesten Kreisen bekannte, unverheirathete Studentenmutter, zu der Füchse, bemooste Häupter und „alte Herren“ gleichgern wallfahrten, und der die Väter und Großväter der jetzigen Musensöhne schon die Hand geschüttelt haben. Aber trotzdem ist die Menschenmasse in den Straßen Heidelbergs noch so groß, daß an kein Durchkommen zu denken ist. Flüchten wir in ein Café, eine Wein- oder Bierstube, so müssen wir lange antichambriren, bis wir zum Altar des Bacchus oder Gambrinus, oder bis die Priester und Priesterinnen dieser Gottheiten zu uns gelangen. Ueberall wird noch pokulirt und kommersirt, immer noch treffen wir alte Bekannte und erfahren mit Erstaunen, daß sie uns besucht, aber nicht angetroffen haben. Wir machen uns indeß auf zum Kostümfest auf dem Schlosse.

Alles zieht hinauf zu der ehemaligen Residenz der Kurfürsten, die ihre feenhaften Räume noch einmal öffnet, um das stimmungsvollste aller Stimmungsbilder ins Leben zu rufen. Wir finden hier wieder die einzelnen Gruppen des Festzuges im Schloßhof, dem Otto Heinrichsbau, dem Ruprechtsbau, um die Fontaine, die Cisterne, im Bandhaus etc. gelagert, der Großherzog erscheint mit seiner Familie, eine Ehreneskorte von Farbenstudenten in Koller und Kanonen geleitet die hohen Gäste. Weihevoll und freudig bewegt wird die Stimmung.

Nicht eine Feder, Hunderte müßten uns zu Gebote stehen, wollten wir die Herrlichkeit dieses Schlußaktes der ganzen Jubiläumsfeier genugsam preisen, die malerischen Gelage auf dem Altan, die harmonische Gruppirung im Bandhaus, den grotesken Zug über die Brücke des Hirschgrabens, die großartigen Bilder in den Zimmern und den Sälen der Schloßruine, die Erscheinung des Fürsten Otto Heinrich auf dem Treppenaufgangsplateau des nach ihm genannten Baues, umgeben von seinem gesammten märchenhaft prangenden Hofstaat, herunterwinkend in die buntkostümirte Menge, welche ihn mit vielstimmigem Hurrah begrüßt. Dann wieder die schlichten Herren im Professorenrock der Neuzeit, auf der Burgtreppe gelagert, ein Gläslein Weines trinkend und ein Schinkenbrot essend, von dem die Runde machenden Fürstenpaar angeredet, wobei sie kauend ihre Reverenz stammeln. Wollten wir gar niedersteigen zum großen Faß und in den darangrenzenden ungeheuren Faßsaal mit seinen Hunderten zechender, rauchender und singender junger und alter Herren (mit dazwischen gestreuten Damen) in Civil, Uniform und Kostüm aller Jahrhunderte, wahrlich, wir müßten mit den Worten so umgehen können, wie Meister Hoff mit den Farben, Stoffen und Menschengestalten, um der Wirklichkeit auch nur annähernd gerecht zu werden. Hellebardiere und Gamaschenknöpfe der Neuzeit sitzen Arm in Arm. Drei Nonnen bewegen sich in der Gesellschaft eines biderben Landsknechtes; Ruprecht der ältere zündet sich eine Cigarette an, und Marsilius ab Inghen, der erste Rektor der Universität Heidelberg, zieht die Uhr, um nachzuschauen, ob es noch zu einem Viertelchen langt.

So fand die Jubelfeier an dieser denkwürdigen Stätte ihren glänzenden Abschluß; hier erlosch der letzte Festtag und verlor sich der letzte Jubelruf. Aber in tausend alten Herzen klingt noch die Freude nach, Tausende junger Köpfe hebt der Stolz in die Höhe, denn das ist die goldene Frucht solcher Jnbeltage, daß sich an ihnen das Volk gelobt, an dem Errungenen festzuhalten und neue Siege des Geistes zu erkämpfen. H. Waltz. 


Blätter und Blüthen.

Die neue Spieloper. Auch die Operette findet neuerdings ihre begeisterten Apostel: allerdings nicht die von Frankreich herübergekommene Operette Offenbach’s, welche mit ihrer kecken Verspottung der alten Götter und Helden die Runde über alle Bühnen der Welt machte, sondern die neue Wiener Operette, diejenige der Milloecker und Strauß. Ein eifriger Vorkämpfer derselben, Franz Josef Brakl, sucht in seiner Schrift: „Moderne Spieloper“ (Franz’sche Verlagshandlung, München und Leipzig) nachzuweisen, daß diese Operette eigentlich nur eine Wiedergeburt der älteren Dittersdorf’schen Spieloper ist, und während er den Geigenkankan der Offenbachiaden preisgiebt, verherrlicht er die Wiener Operettendichter, theilt ihre Lebensbeschreibungen mit, ein Verzeichniß ihrer Werke, ihre Portraits, ihre Autographen, kurz er behandelt sie so gewissenhaft, wie König in seiner Litteraturgeschichte die altdeutschen Dichter. Es ist wahr, die neue Spieloper ist anständiger geworden, als die eigentlichen Offenbachiaden waren, in denen die hunderttausend Teufel des musikalischen Champagners schäumten und sprudelten, ihre lustigen Purzelbäume schlugen und dabei der guten Sitte oft genug ein Bein stellten. Gegen „Bettelstudent“ und „Feldprediger“ wird auch die strengste Sittenrichterei nichts einzuwenden haben; aber vor einer Ueberschätzung der ganzen Gattung, die weder in dramatischer noch musikalischer Hinsicht vollgültig ist, muß doch gewarnt werden: die großen Erfolge der Textdichter und der Komponisten stellen dem Zeitgeschmack kein günstiges Zeugniß aus. Seitdem auch die größeren Stadttheater ihre Pforten der Operette geöffnet und an ihren Kasseneinnahmen die bedeutende Zugkraft derselben schätzen gelernt haben, hat sie ein bedenkliches Uebergewicht auf dem Repertoire erhalten, und die begeistertsten Vorkämpfer derselben werden nicht in Abrede stellen können, daß dies Uebergewicht nicht dem Aufschwung unseres Bühnenwesens zu Gute kommt.

Was für wunderliche Blasen die Begeisterung für die Operette treibt, das erfahren wir aus einer Anekdote, mit welcher die Lebensbeschreibung des Walzerkönigs Johann Strauß ausgeschmückt ist. In einer Vorstadt Wiens lebte eine wohlhabende einfache Bürgersfrau, die kein größeres Vergnügen kannte, als Strauß’sche Tanzmusik zu hören, das hat sie in jeder Lage des Lebens heiter und zufrieden gestimmt. Doch ihr Strauß-Kultus reichte noch bis über ihren Tod hinaus; sie verfügte testamentarisch, daß bei ihrem Begräbniß die Strauß’sche Kapelle ihre Lieblingswalzer spielen solle, und bestimmte dafür jedem Musiker einen Dukaten. Dieser Auftrag war in so dringender entschiedener Weise ausgesprochen, daß die Erben trotz einiger religiöser Skrupel sich ihm nicht entziehen konnten. Johann Strauß erschien mit seiner Kapelle pünktlich zur angesetzten Begräbnißstunde im Hause der Verstorbenen. Nachdem der Geistliche oben die Einsegnung der Leiche vollzogen hatte, wurde der Sarg hinabgetragen und in dem geräumigen Hausflur niedergestellt. Die Musiker bildeten einen Kreis um denselben und spielten ihre Strauß’schen Walzer; dann erst wurde der Sarg aufgehoben und zur letzten Ruhestatt begleitet. Ohne Frage war jene Bestimmung ein wunderlicher Einfall, der mit den religiösen Gefühlen wenig im Einklang steht und die Operette an einer Stelle zeigt, wo sie wirklich nicht hingehört: am Sarg einer Verstorbenen.  

Eine jüdische Proselytin. Von einem der merkwürdigsten Schicksale wurde die Gräfin Anna Konstanze von Cosel (von Cossell schrieb sie sich selbst), die Geliebte des Königs August des Starken, betroffen: fünfzig Jahre saß sie gefangen auf der kleinen sächsischen Festung Stolpen. Von schleswig-holsteinischem Adel, hatte sie sich im Jahre 1699 mit dem Freiherrn von Hoymb vermählt, der sie aber auf seinem Schlosse verborgen hielt aus Furcht, ihre glänzende Schönheit könne bei Hofe Unheil anrichten oder erfahren; doch bei einem Trinkgelage ließ sich der Gatte zu einer Wette hinreißen, seine Gattin übertreffe alle Damen des Hofes an Schönheit und Anmuth. Der König war Schiedsrichter in dieser Wette, und damit war auch das Geschick der schönen Dame mit der hohen schlanken Gestalt, den wunderbar glänzenden schwarzen Augen entschieden. Von ihrem Gatten getrennt, wurde sie die Gunstdame des Königs und bald allmächtig bei Hofe, setzte Minister ab und ein, bis sie selbst dem Hasse der Staatslenker und den wandelbaren Neigungen des Königs zum Opfer fiel, der in der Gräfin Dönhoff bereits eine reizvolle Nachfolgerin an ihrer Stelle erkoren hatte. Lange weilte die Cosel in Pillnitz; sie weigerte sich, Briefe und Dokumente herauszugeben. Sie floh von Pillnitz nach Berlin, dann nach Halle, wo sie 1716 verhaftet und auf die Festung Stolpen gebracht wurde. Wir wollen hier nicht die romanhaften Abenteuer schildern, welche der langen Haft vorausgingen, nicht diese selbst, die schon wegen ihrer fünfzigjährigen Dauer merkwürdig ist – wenige der historisch beglaubigten Gefangenschaften haben ein halbes Jahrhundert gewährt: wir wollen nur als Kuriosität die Aufzeichnungen aus den letzten Jahren ihres Lebens erwähnen, denen zufolge die Gräfin eine auffallende Neigung zum Judenthum an den Tag gelegt. Die Gräfin Cosel beschäftigte sich in ihrer Einsamkeit fortwährend mit Lektüre. Da studirte sie denn vor Allem das Alte Testament; sie verkehrte viel mit Juden; so war das Judenthum ihre Passion geworden. Sie forderte unter dem Pseudonym Lobgesang den Pfarrer Bodenschatz in Bischofswerda auf, hebräische Traktate ins Deutsche zu übersetzen; dann wurde dieser zu dem geheimnißvollen Briefsteller selbst berufen. Derselbe enthüllte sich ihm als die Gräfin Cosel, die ihm in dem Anzuge eines jüdischen Hohenpriesters entgegentrat. Sie verlangte von ihm Aufschlüsse über Talmudstellen, jüdische Gebetbücher und andere rabbinische Dinge, brachte aber dabei allerlei aufs Tapet, was gegen die Lehre Christi und seine heilige Person gerichtet war.

Der officielle Bericht des Amtmanns Gülden über den Glauben der Gräfin Cosel lautet:

„Der Glaube, auf welchen die Gräfin verstorben, ist schwer zu determiniren; es ist wahr, vor dem letzten Kriege hat die Verstorbene mit verschiedenen Juden,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_627.jpg&oldid=- (Version vom 23.10.2022)