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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Sie sind ja selbst eine ausgezeichnete Künstlerin, gnädige Frau“ sagte ich.

„Sie schmeicheln mir,“ rief Frau Lili. „Mein kleines Stimmchen! Ein wenig Routine – die ich Madame Artot verdanke – ein wenig interprétationexpression – wie sagt man auf Deutsch?“

„Ah ja – Ausdruck! o, das Deutsche ist so furchtbar schwer!“

„Aber Sie sprechen es ja vollkommen.“

„Mein Gott, wir Polen sprechen ein wenig alle Sprachen. In meinem elterlichen Hause in Warschau wurden tagtäglich sieben oder acht Sprachen durch einander gesprochen: polnisch, russisch, tschechisch, deutsch, französisch - wann waren Sie zuletzt in Paris?“

„Ich war noch nie dort, gnädige Frau“

Est-ce possible? aber in London?“

„Ebensowenig.“

That´s strange! Isn´t, Fred?“

Very!“ murmelte Mr. Fred.

Ich glaubte, daß die durch mich verursachte Pause in den gemeinschaftlichen Hebungen der beiden Musikschwärmer reichlich lange gedauert habe, und erhob mich. Mr. Fred folgte sogleich meinem Beispiel: er hatte offenbar nichts dagegen, wenn ich ging. Frau Lili wollte davon nichts wissen oder höchstens unter einer Bedingung, daß ich für den Rest des Winters zu jedem ihrer Empfangsabende komme, welche des Donnerstags stattfänden und wo ich tout Berlin antreffen würde, von dxn Herzögen und Fürsten – hier folgte eine Reihe erlauchter Namen – bis zu dem Virtuosen im letzten Singakademie-Koncert und dem Verfasser des letzten interessanten Feuilleton. Nicht als ob sie nach Berühmtheiten jage! - Sie kämen aber von selbst, weil sie wüßten, daß sie hier, so zu sagen, unter sich wären - tout en famille - sans prétention de quelque sorte - in aller Bescheidenheit, wie es sich für ihre bescheidene Häuslichkeit zieme. Darauf müsse ich mich gefaßt machen. Es würde mir freilich schwer werden, denn sie höre von Emil, daß ich ein sehr verwöhnter Herr, sei; aber auch Herr von Vogtriz komme regelmäßig, und das sei doch gewiß ein verwöhnter Herr. Isn’t he, Fred?

Mr. Fred murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich war freilich bereits in der Nähe der Thür, an welcher ich mich nun zum letzten Male vor der redseligen Dame, die mich trotz meiner Abwehr begleitet hatte, verbeugte, um in dem Vorzimmer erleichtert aufzuathmen. Es mochte ja ein großes unverdientes Glück sein, das der gute Emil sich mit Frau Lili, geborene Löbinska aus Warschau erobert. Aber ich meinte, das Glück würde nicht kleiner sein, wenn es etwas weniger laut wäre und etwas weniger eifrig mit englischen Vettern in der Dämmerung musicirte. Wie um Alles in der Welt hatten sich diese beiden so grundverschiedenen Wesen finden können? Mir schien das so unerklärlich, wie es mir seiner Zeit unbegreiflich gewesen sein würde, wenn Emil den festen Entschluß ausgesprochen hätte, unter die Piraten gehen zu wollen. Was würde der selige I. I. zu solcher Schwiegertochter gesagt, und wie mochte sich die gute scheue Frau Israel, das liebe bescheidene Jettchen zu der Schülerin der Madame Artot gestellt haben?

In so seltsamen und nicht durchaus erfreulichen Gedanken folgte ich dem Goldbetreßten durch die Gemächer, in denen jetzm hier und da Lampen brannten, und dann die zweite der Treppen hinauf zu dem oberen Korridor, der nicht annähernd so prunkvoll ausgestattet war wie der untere und in welchem der Betreßte an einer Thür schellte, die auch alsbald von einer kleinen weiblichen Person geöffnet wurde, welche ich in dem Halbdunkel, um so weniger erkannte, als der Diener die Thür sofort wieder hinter mir geschlossen und so das wenige Licht, das von dem Treppenhause hereingefallen war, ausgesperrt hatte.

Aber ich hatte kaum nach den Damen gefragt und meinen Namen genannt, als die kleine ruschlige Person neben mir einen leisen Schrei ausstieß und, meine Hand ergreifend, dieselbe wiederholt schluchzend an ihre Lippen führte, bevor ich es verhindern konnte.

„Mein guter Herr Lorenz, mein lieber Herr Lorenz! Kommen Sie endlich! Gott sei gelobt!“

Es war Frau Israel.

Ich war durch diesen Empfang in tiefe Verlegenheit gesetzt. Wollte ich ehrlich sein, so hatte mich mehr ein Anstandsgefühl als ein Herzensdrang hierher geführt; der Wunsch, einer alten Schuld ledig zu werden, mehr, als der nach Erneuerung des alten Verhältnisses. Und hier wurde ich begrüßt wie ein Hochwillkommener, Längsterwarteter, ja, als ein Retter und Heiland.

„Ist Jettchen schwerer krank?“

Ich wußte nicht, wie ich zu der Frage kam, mit der ich es so eilig hatte, daß sich zu dem „Fräulein“ keine Zeit fand.

„Ach nein,“ sagte die Mutter; „sie ist nicht kränker als gewöhnlich, aber seitdem Emil, heute Morgen hat heraufsagen lassen, daß sie Wohl in den nächsten Tagen, vielleicht schon heute vorsprechen würden, kann sie die Zeit nicht erwarten.“

Ich murmelte etwas von Verhältnissen, die es mir bis vor kurzem unmöglich gemacht hätten; brauchte die Phrase aber glücklicherweise nicht zu Endst zu bringen, da Frau Israel jetzt die Thür zu einem Gemache öffnete, das wohl ein wenig höher und weiter war als die Familienwohnstube in dem Giebelhause, aber sonst völlig dasselbe Bild bot: die zwei Fenster, in denen hinter den grünen Gazevorhängen die Rosen- und Resedatöpfe blühten, der alte Nußbaumschrank zur Linken, zur Rechten das schwarze Sofa mit den beweglichen Rücken- und Seitenkissen, und weiter das klappernde Klavier; in der Mitte des Zimmers der runde Tisch mit dem plumpen Fuß und der rothbraunen baumwollenen Decke, die vier braunen unbequemen Stühle mit der schwarzen Leyer in der Rückenlehne - Alles, Alles. Nur den einen großen Lehnstuhl kannte ich nicht, welcher mit dem Rücken nach mir in einem der Fenster stand, und aus dem sich jetzt ein weibliches Wesen aufrichtete, vielmehr aufrichten wollte, denn es sank sofort wieder in die Kissen zurück.

„Liebes, liebes Jettchen!“

Ich war zu ihr geeilt und hatte ihre schmale durchsichtige Hand ergriffen – nicht ohne Schauder – sie war so wachsbleich und durchsichtig - ohne daß ich gewagt hätte, ihr ins Gesicht zu sehen. Und jetzt mußte ich doch und erschrak in tiefster Seele. War das Jettchen? War es ein Engel? Der Engels der sie immer gewesen, und den nur die fürchterliche Krankheit auch dem sterblichen Auge enthüllt hatte: Züge von einer Reinheit und kindlichen Anmuth, wie sie zu schaffen auch des zartsinnigsten Bildners Hand verzweifeln würde, Augen von einem magischen Glanz, wie sie ein Maler für seine Himmelskönigin träumt, aber nicht zu schaffen vermag.

Ich war erschüttert neben ihrem Sessel auf einen Stuhl gesunken, welchen die Mutter geschäftig herangerückt hatte, und saß so lange, in ihren Anblick verloren, während sie mich unverwandt mit Blicken einer ganz unsäglichen Freude und grenzenlosen Liebe betrachtete. Hier bedurfte es keiner Erklärung. Die Geschichte dieses Herzens, von der ich blöder Thor bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte, brauchte mir Niemand mehr zu erzählen; und daß diese Geschichte so ganz offenbar bis zu ihrem letzten Kapitel gekommen war, nahm ihrem Inhalt alles kleinlich persönliche und hätte demselben auch in den Augen eines Fremden, meine ich, etwas seltsam Feierliches geben müssen.

So saßen wir still neben einander, während die Mutter noch ein paarmal leise ab- und zuging und dann in einem Nebengemache verschwand, lautlos, wie sie auch damals, so oft verschwunden war.

„Die arme Mutter!“ sagte die Kranke mit einer leisen, wie Schwalbengesang süßen Stimme; „aber ich weiß, Du wirst Dich ihrer, wenn ich todt bin, freundlichst annehmen und gute Worte des Trostes für sie haben. Sie verdient es wohl um Dich.“

Ich hatte nicht das Herz, ihr in das bleiche Gesichtchen zu sagen, daß sie nicht sobald sterben werde, sondern versprach ihr nur, was sie von mir wünschte.

„Ich danke Dir,“ sagte sie, „und ich weiß auch, daß es Dir keine Mühe macht, gut zu sein. Das ist es ja, weßhalb Mutter und ich Dich so lieb gehabt haben. Du warst der Sonnenschein in unserm Hause und in unserm Leben. Ich weiß nicht, was wir ohne Dich gewesen wären. Uns wird das Gutsein nicht so leicht. Eigentlich sollen wir die Christen nicht lieben. Wir thun auch Manches, weßhalb sie uns nicht lieben können. Für Dich war das Alles nicht da. Für Dich waren wir keine häßliche, verachtete Juden, für Dich waren wir Menschen; Und wenn sie von dem Messias sprachen, der Jsrael erlösen soll, so dachte ich

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