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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Lieber Emil,“ unterbrach ich ihn, „glaube mir, ich habe Alles bedacht. Ich bin nun einmal der alte, unpraktische, dumme Junge geblieben, über den sich schon Dein seliger Vater so gründlich hat ärgern müssen. Da Du nach neuen Principien arbeitest, darfst Du das bei Leibe nicht auch, sondern mußt mich meines Weges ziehen lassen, der übrigens für den Augenblick zu Deiner Mutter und Deiner Schwester führt. Sie wohnen hier in demselben Hause?“

„Zwei Treppen rechts. Links wohnt mein Schwager. Aber darf ich Dich nicht erst zu meiner Frau – sie würde sich unendlich freuen – ich glaube, sie wird noch zu Hause sein – wenn Du erlaubst, werde ich Dich hinausbegleiten.“

Da ich sah, daß ich um diese Visite doch nicht herumkommen würde, so mochte sie gleich jetzt gemacht werden. Ich erklärte mich deßhalb bereit unter der Bedingung, daß Emil sich in seiner Arbeit nicht weiter stören lasse; ich hätte ihn nur zu lange schon von wichtigeren Dingen abgehalten.

Wir vereinigten uns dahin, daß er mir durch die Geschäftsräume das Geleit geben dürfe, was er denn nun auch zur Verwunderung sämmtlicher junger Herren in den Drahtlauben that.

„Deine Frau ist aus Warschau?“ fragte ich, während wir so dahiuschritteu.

„Lili ist eine Polin,“ erwiderte Emil mit Nachdruck; „sie spricht ein wunderbares Französisch, und englisch, wie eine Engländerin; aber auch deutsch.“

„Das Letztere ist mir eine große Beruhigung,“ sagte ich, „und ich sollte meinen, auch Dir. Mit Deinem Französisch und Englisch–“

„Es ist ein wenig besser damit geworden; übrigens mein Schwager – er besorgt die ausländische Korrespondenz – Polen – weißt Du – sprechen alle Sprachen – sind damit geboren.“

„Ein großer Vortheil. Und Lili heißt Deine Frau?“

„Ja, ihr eigentlicher Name ist – ist anders; aber Lili klingt so gut, meint sie. Du nicht?“

„Aber sicher. Und sie ist natürlich noch sehr jung?“

„Natürlich! sehr! achtzehn – kaum, trotzdem wir schon beinahe ein Jahr verheirathet sind.“

„Beneidenswerther Mensch!“

„Ich habe in der That ein großes unverdientes Glück gehabt.

Wenn nur meine Schwester – das arme Jettchen – aber Du wirst sie hernach aufsuchen? sie wird sich so sehr freuen – und die Mutter!“

„Sei versichert! Und nun keinen Schritt weiter!“

Wir waren bis zur Ausgangsthür gelangt. Emil übergab mich einem herbeigekliugelten Livreediener, der mich nach oben führen sollte.

„Die gnädige Frau ist doch zu Hause?“ fragte Emil.

Der in Livree bejahte mit einigem Zögern, wie mir schien.

„Allein?“

„Herr Simon ist oben.“

„Ah!“ sagte Emil. Und dann flüsternd zu mir: „Ein Schwager meines Londoner Schwagers. Sehr musikalisch! Pflegt um diese Zeit mit Lili zu musiciren – Alfred Simon – Lili spricht den Namen: Simmen – Mister Fred Simmen – damit Du nicht glaubst, daß es ein Anderer ist.“

Ich weiß nicht, warum, aber Emil’s fleischige Nase schien mir, wie er das sagte, noch länger, und seine Unterlippe zitterte, als ob die Drahtlauben Haselbüsche wären und in jedem statt der schwarzhaarigen kritzelnden Herren ein Pirat seinen Dolch wetzte.

Indessen ich hatte keine Zeit, dafür nach einer Erklärung zu suchen, drückte dem guten Jungen die Hand und folgte dem Manne in Livree nach oben.

6.

Die Zeiten hatten sich freilich sehr gewandelt, seitdem mich an der Thür des Giebelhauses auf den Ruf der klappernden Schelle I. I. selbst empfing und mich mit höflichsten Mienen und Gebärden die drei Schritte über den Flur mit den Weißen Scheuerdielen bis zu der Wohnstube linker Hand geleitete, wo ich die beiden schüchternen Frauen fand, die bei meinem Eintreten von ihren Sitzen auf- und in dem Zimmer herumhuschten. wie meine Kaninchen weiland, wenn ich die Thür zu ihrem Palais unversehens öffnete. Ich hätte mich in meine herzoglichen Zeiten zurückversetzt glauben können, nur daß es in keineni jener Schlösser so Prunkhaft ausgesehen wie hier.

Hätte ich mich nicht vor dem Manne in blau-roth-goldenem Frack, schwarzer Plüschhose mit weißen seidenen Strümpfen geschämt, ich wäre die Treppe hinab und zum Hause hinaus geflohen; aber schon hatte er mir meine Karte abgenommen, dieselbe auf einen bereit stehenden silbernen Teller gelegt und war so durch eine der vergoldeten Thüren verschwunden.

Nach einigen Minuten erschien er wieder: die gnädige Frau lasse bitten! und schritt mir voran über Teppiche, weich und elastisch wie ein Moosboden im Walde, durch eine Reihe von Gemächern, deren jedes ein Raritätenkabinett schien: so waren sie angefüllt mit kostbaren Möbeln, Gemälden, Marmorund Bronzesachen, Kunstgegenständen, Nippes aller Art – Herrlichkeiten, die ich allerdings mehr ahnen, als wirklich schauen und bewundern konnte, denn zu dem Letzteren bewegten wir uns zu schnell (trotz der würdevollen Langsamkeit der voranschreitenden Plüschhosen); überdies war der Winternachmittag schon zu tief. hereingesnnken und die hohen Fenster zu dicht mit seidenen Gardinen verhüllt.

Ich hatte im Allgemeinen nur den Eindruck einer noch nie geschauten Pracht, auf deren Herstellung mindestens eine halbe der von I. I. zusammengescharrten Millionen verwandt sein mußte. Meinetwegen eine ganze – es entzog sich jeder Berechnung, zumal der meinigen, da ich immer ein so schlechter Rechner gewesen war.

Der Livréemann hatte eine letzte Portiere zurückgeschlagen zu einem Gemache, aus welchem mir nun Musiktöne, die ich bereits seit einer kleinen Weile dumpfer vernommen, laut entgegenschallten: eine sehr hoch liegende weibliche Stimme mit einem eigenthümlich vibrirenden Klang, von dem ich mir sagte, daß er auf die Dauer manchen Nerven empfindlich, werden möchte, und Klänge eines Flügels, der vielleicht zu sonor war, um – zumal zur Begleitung eines Liedes – so rauschend gespielt zu werden.

„Nun muß sich Alles, Alles wenden!“ schmetterte die vibrirende Stimme, und die begleitenden Hände arbeiteten auf den Tasten, als ob ein Aeqninoktialsturm wüthete, dem Plötzlich eine feierliche Stille folgte.

Die Musicirenden mußten Text und Noten gut im Kopfe haben: in dem weiten Gemach war es noch dunkler als in den durchschrittenen, so dunkel, daß ich eben nur die Silhouetten eines Herrn und einer Dame auf dem etwas lichteren Hintergründe der Fensterwand sah.

„Sehr verbunden!“ sagte eine der Silhouetten.

Ich wußte nicht genau, ob die des Herrn oder der Dame; oder weun es, wie zu vermuthen stand, die der Dame war, lag ihre Sprechstimme eben so tief wie ihre Singstimme hoch und die R’s schnarrten, als ob sich Jemand, der mit einem starken Katarrh behaftet sei, räuspere.

„Erlauben Sie, daß ich Sie mit meinem Kousin, Mister Fred Simmen bekannt mache – Herr Lothar Lorenz, lieber Fred, von dem Emil heute beim breakfast so viel Gutes gesprochen hat.“

Es war also zweifellos die weibliche Silhouette, die nun auch, da der Diener mittlerweile verschiedene Lichter angezündet hatte – ein Geschäft, das er noch eine Weile fortsetzte – aus dem Dämmer Plastisch heraustrat: ein sehr junges, sehr kleines, sehr zierliches Persönchen in einer sehr kleidsamen, aber auch sehr koketten Toilette, mit einer Uebersülle von sehr dunklem, gekraustem Haar, unter dessen Gewirr über der niedrigen Stirn zwei sehr dunkle und sehr lebhafte Augen flackerten. Mit ihr zugleich wurde nun auch „Mister Simmen“ sichtbar: ein stattlicher Herr, etwa zehn Jahre älter als die Dame, aber ebenso schwarz wie sie, so daß man in ihm den Engländer wohl nur an der Kleidung erkennen mochte, die von etwas ausländischem Schnitt und gewiß nach der neuesten Mode war. Wir verbeugten uns stumm vor einander; ich bat Frau „Lili“ um Entschuldigung, daß ich gestört habe.

„Das thut ganz und gar nichts,“ erwiderte sie; „wir hatten schon zwei Stunden musicirt, ohne die geringste Pause – nicht wahr, Fred: ohne eine Sekunde Pause.“

Ich glaubte deutlich gehört zu haben, daß die Musik erst ganz kurz vor meinem Eintreten und zwar mit dem Schluß des Liedes eingesetzt hatte; es mußte eine Täuschung gewesen sein, denn Mister Fred murmelte bestätigend: „Ohne eine Sekunde: indeed!“

„Sie lieben die Musik natürlich auch,“ fuhr Frau Lili fort; „sie ist die Kunst aller Künste. Nicht wahr, Fred?“

Indeed,“ murmelte Fred.

„Sie müssen nämlich wissen, daß mein Kousin ein großer Künstler ist“, rief Frau Lili. „Er hat Stunden, in denen er es getrost mit Bülow aufnehmen kann, oder mit Rubinstein. Ich darf sagen, daß er die Vorzüge beider vereinigt.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_618.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)