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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sie hielt die Augen wieder hartnäckig gesenkt und sprach in einem Tonfall, der ihren Zuhörer auf das Lebhafteste an seinen Traum in der vergangenen Nacht erinnerte. Um seine Lippen zuckte es eigenthümlich, aber er bezwang sich und erwiderte mit vollem Ernste:

„Ja, der Adel! Aber es giebt doch auch außerdem noch einige Menschen in der Welt.“

Fräulein Gerlinde sah etwas erstaunt aus, sie schien diese Thatsache zu bezweifeln und verfiel in ein tiefes Nachdenken, als dessen Resultat sie endlich erklärte:

„Ja freilich – die Bauern.“

„Richtig! Und noch einigen anderen Menschenrassen kann man die Daseinsberechtigung nicht völlig abstreiten. Die Gelehrten zum Beispiel, die Künstler, zu denen ich auch gehöre –“

Fräulein Gerlinde öffnete die rosigen Lippen weit vor Erstaunen und wiederholte:

„Zu den Künstlern?“

„Ja so, sie hält mich auch für solch ein mittelalterliches Subjekt,“ dachte Hans, der seine Standeserhöhnug ganz vergessen hatte, laut aber fügte er hinzu:

„Gewiß, mein gnädiges Fräulein, ich beschäftige mich mit der Kunst und schmeichle mir sogar, etwas darin zu leisten.“

Die junge Dame fand diese Beschäftigung offenbar sehr unpassend. Zum Glück fiel ihr ein, daß irgend ein Eberstein sich in irgend einem Jahrhnndert mit Astrologie abgegeben hatte, und das erklärte einigermaßen den wunderlichen Geschmack des Herrn Wehlau Wehlenberg, aber sie fand sich doch veranlaßt, ihm einen Ausspruch ihres Vaters zu wiederholen:

„Mein Papa sagt, ein Mann von altem Adel dürfe der Gegenwart keine Koncessionen machen, das sei unter seiner Würde.“

„Das ist nun die Ansicht des Herrn Baron,“ sagte Hans achselzuckend. „Er scheint sich so vollständig von der Welt zurückgezogen zu haben, daß er jede Fühlung mit ihr verloren hat; seine Standesgenossen denken ganz anders in dieser Beziehung. Sehen Sie zum Beispiel die Grafen von Steinrück, ein Geschlecht, das ebenso alt ist wie das Ihrige.“

„Zweihundert Jahre jünger!“ unterbrach ihn Gerlinde entrüstet.

„Ganz recht, volle zweihundert Jahre! Ich erinnere mich, der Ahnherr wird erst in den Kreuzzügen genannt, während der Ihrige aus dem achten Jahrhundert stammt.“

„Aus dem zehnten.“

„Natürlich, aus dem zehnten! Ich habe mich nur versprochen, ich meinte selbstverständlich das zehnte Jahrhundert. Um aber wieder auf die Steinrück zu kommen, so ist Graf Michael kommandirender General; sein Sohn war, so viel ich weiß, bei der Gesandtschaft in Paris, sein Enkel ist im Staatsdienste. Sie Alle stehen mitten im lebendigen Strome der Gegenwart und würden sich schwerlich zu den Ansichten Ihres Herrn Vaters bekennen, und auch Sie werden anders darüber denken, wenn Sie erst in die Welt und das Leben eintreten.“

„Ich mag gar nicht dort eintreten,“ sagte Gerlinde leise und zaghaft. „Ich fürchte mich so davor.“

Hans lächelte, er trat einen Schritt näher und beugte sich nieder zu dem zarten Geschöpfchen; seine Stimme klang eigenthümlich weich und sanft, als spreche er zu einem Kinde.

„Das läßt sich begreifen, Sie leben ja hier so weltentrückt, so eingesponnen in eine längst versunkene Zauberwelt, wie das schlummernde Dornröschen im Märchen. Aber einmal wird doch der Tag kommen, wo die Dornenhecke gesprengt wird, wo die grünen Mauern weichen, der Tag, wo Sie erwachen aus dem Zauberschlaf, und glauben Sie mir, mein Fränlein, was Sie dann erblicken, das ist nicht mehr der Staub und Moder der Jahrhunderte, das ist das warme, goldige Sonnenlicht, das auch durch unsere Zeit fluthet, trotz aller Kämpfe und Bitternisse – Sie werden auch noch lernen hineinzuschauen!“

Gerlinde hörte schweigend zu, aber ein leises, glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verrieth, daß sie das Märchen von Dornröschen kenne. Jetzt hob sie langsam die Augen empor, nur für einen Moment, und senkte sie dann schnell wieder, was ihr aus dem Antlitz des jungen Mannes entgegenleuchtete, mochte auch etwas von jenem Lichte sein, das er ihr eben verheißen – sie wurde plötzlich dunkelroth und wandte sich hastig ab.

Muckerl war jedenfalls eine sehr verständige Ziege, sie hatte bisher ruhig geweidet und nur bisweilen einen ernsthaften Blick auf die Beiden geworfen, schien aber im Ganzen zufrieden mit dem Verlauf der Unterredung. Jetzt aber mußte ihr die Sache doch bedenklich vorkommen, denn sie ließ plötzlich das Gras im Stich und lief zu ihrer jungen Herrin, an deren Seite sie sich wie ein Wächter aufpflanzte.

„Ich glaube – ich muß in das Schloß zurück,“ sagte Gerlinde kaum hörbar.

„Schon?“ fragte Hans, der es gar nicht merkte, daß das Gespräch schon eine halbe Stunde gewährt hatte.

Sie traten gemeinschaftlich den Rückweg an, wobei Hans die Milch trug, Fräulein Gerlinde an seiner Seite ging und Muckerl folgte, von Zeit zu Zeit ernsthaft mit dem Kopfe nickend. Verdächtig war und blieb ihr die Sache doch, sie konnte nicht begreifen, weßhalb die Beiden auf einmal so stumm geworden waren. –

Eine Stunde später stand der junge Wanderer am Fuße der Ebersburg. Er hatte sich von dem Freiherrn und seiner Tochter verabschiedet, ohne sein Inkognito aufzugeben, er wollte dem alten Herrn den alsdann unvermeidlichen Aerger ersparen. Was lag denn auch daran, wenn man ihn hier noch ferner für ein „mittelalterliches Subjekt“ hielt; das Abenteuer war ja zu Ende, und er betrat schwerlich jemals wieder die Ebersburg.

Sein Blick flog noch einmal hinauf zu dem grauen Gemäuer, zu der sonnigen Burgterrasse, und die so gepriesene Gegenwart, der er sich jetzt wieder zuwandte, wollte ihm auf einmal recht nüchtern erscheinen gegen den Märchentraum, der ihm dort aufgegangen war, inmitten des grünen Waldmeeres, auf den alten Trümmern, wo es ringsum blühte und duftete, und an der Seite des kleinen Dornröschens, das sich nun wieder einspann in seine Einsamkeit und weiter träumte von dem Ritter, der die Dornenhecke sprengte und es wach küßte aus seinem Zauberschlummer. Hans unterdrückte einen Seufzer, als er sich jetzt abwandte und halblaut sagte:

„Es ist doch eigentlich schade, daß ich nicht Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein bin!“


In Steinrück herrschte eine äußerst rege Geselligkeit, die durch die Jagdzeit und die schönen, sonnigen Herbsttage noch mehr begünstigt wurde. Es war zwar Niemand zu längerem Aufenthalte in das Schloß geladen worden, Gerlinde von Eberstein ausgenommen, die seit einigen Tagen dort weilte, aber man empfing fast täglich Gäste und machte eben so häufig Besuche in der Umgegend. Den Mittelpunkt dieser Geselligkeit bildeten gewöhnlich Hertha und Raoul Steinrück. Man wußte ja längst, daß die Beiden für einander bestimmt waren, daß das jetzige Zusammensein ihnen nur Gelegenheit zu einer Erklärung geben sollte, die eigentlich nur noch eine bloße Form war, und als der General die Einladungen zu einer größeren Festlichkeit erließ, die den ganzen Freundes und Bekanntenkreis des gräflichen Hauses vereinigen sollte, kannte ein Jeder die Bedeutung derselben; es handelte sich um die öffentliche Verkündigung der Verlobung.

Der Abend brach bereits herein, und das ganze Schloß war von jener Unruhe erfüllt, die einem größeren Feste voranzugehen pflegt. Die Diener liefen treppauf, treppab, hier und dort wurde noch in aller Eile eine Anordnung getroffen und die Gesellschaftsräume strahlten bereits im vollsten Lichtglanz.

Die Familie, in der nur noch Hertha und Gerlinde fehlten, trat soeben in den Empfangssalon. Graf Steinrück, der die verwittwete Gräfin führte, sah ungewöhnlich heiter aus; der heutige Tag brachte ihm ja die Erfüllnng seines Lieblingswunsches; die Verlobung der beiden letzten Sprossen seines Hauses wurde auf der Stammburg gefeiert, und damit war auch der Glanz dieses Hauses gesichert, der gesammte Steinrück’sche Besitz sollte fortan in Einer Hand vereinigt sein.

Hortense, die am Arme ihres Sohnes folgte, verrieth gleichfalls eine stolze, glückliche Zufriedenheit. Sie sah in der ebenso reichen wie geschmackvollen Toilette und bei Kerzenlicht noch immer schön aus und überstrahlte weit ihre Kousine. Die zarte, blasse Frau verschwand völlig neben dieser glänzenden Erscheinung. Naoul war heiter und liebenswürdig, nur bisweilen schien eine leichte Wolke über seine Stirn zu gleiten, aber sie verschwand

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_595.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)