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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ueberdies ist unsere Kirche eine Stiftung ihrer Familie und verdankt ihr persönlich manche Zuwendung. Sie besucht fast alljährlich die Ruhestätte ihres Gemahls und kommt dann regelmäßig auch hierher.“

„Und kommt sie allein?“ Die Frage hatte etwas Athemloses, Gepreßtes, um so ruhiger klang die Erwiderung des Pfarrers.

„Nein, mit ihrer Tochter und mit der nöthigen Bedienung. Du wirst für heute das Gastzimmer räumen müssen, Michael, die doppelte Bergfahrt ist an einem Tage zu anstrengend für die Damen, sie bleiben stets über Nacht und nehmen alsdann mit der einfachen Gastfreundschaft des Pfarrhauses vorlieb. Ich habe Deinetwegen schon mit dem Meßner gesprochen, der Dir bis morgen Unterkunft gewähren wird.“

Michael erwiderte keine Silbe, er trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus. Endlich, nach einer ganzen Weile, sagte er halblaut:

„Ich wollte, ich wäre mit Hans gegangen!“

„Weßhalb? Vielleicht weil die Damen den Namen Steinrück führen, und weil Du nun einmal Alles in Acht und Bann gethan hast, was diesen Namen trägt? Wie oft schon habe ich Dich ermahnt und gebeten, Dich von diesem unchristlichen Hasse los zu machen!“

„Von meinem Hasse?“ wiederholte der junge Mann mit eigenthümlich erzitternder Stimme.

„Nun, was ist es denn sonst? Als Du mir neulich von dem Zusammentreffen mit Deinem Großvater berichtetest, habe ich gesehen, wie starr und unversöhnlich Du noch immer daran festhältst, und jetzt überträgst Du das sogar auf die ganz unbetheiligten Verwandten des Grafen, von denen Du nur Freundlichkeit empfängst. Du hast mir allerdings nichts von der Bekanntschaft erzählt, aber Hans that es um so ausführlicher. Er scheint ja ganz begeistert zu sein von der jungen Gräfin.“

„So lange er sie vor Augen hat! Und sobald wir wieder in der Stadt sind, hat er sie vergessen – ihm wird das leicht genug.“

Die Worte sollten spöttisch sein und klangen so bitter, daß Valentin befremdet den Kopf schüttelte.

„Das ist in diesem Falle ein Glück,“ erwiderte er. „Es wäre traurig, wenn Hans die Sache ernst nähme, denn ganz abgesehen von dem Standesunterschiede, ist die Hand der Gräfin Hertha längst versagt.“

„Versagt – an wen?“ fragte Michael jäh und heftig, indem er sich umwandte.

„An den Grafen Raoul Steinrück, ihren Verwandten. In jenen Kreisen werden die Verbindungen meist durch Familienbeschluß geregelt, und das ist auch hier geschehen, schon vor Jahren. Eine Verlobung hat allerdings noch nicht stattgefunden, weil die Gräfin sich noch nicht zur Trennung von ihrer Tochter entschließen konnte, die Sache steht aber nahe bevor.“

Der Pfarrer, der als ehemaliger Beichtiger der Gräfin noch jetzt ihr ganzes Vertrauen besaß, war in den Verhältnissen ihrer Familie genau bewandert, er erörterte sie jetzt in voller Ruhe und mit einiger Umständlichkeit, und darüber entging es ihm, daß sein Zuhörer so völlig verstummt war. Michael hatte sich wieder dem Fenster zugewendet, er preßte die Stirn gegen die Scheiben und verharrte noch in dieser Stellung, als die Erzählung längst zu Ende war.

„Sie werden heute viel Unruhe im Hause haben, Hochwürden,“ sagte er endlich, „und ich möchte auch dem Meßner keine Umstände machen. Es wäre Wohl das Beste – ich ginge nach der Försterei und bliebe dort bis morgen.“

„Was fällt Dir ein!“ rief Valentin unwillig. „Ich begreife Deine Zurückhaltung, die Dir Hans zum Vorwurf macht, aber das geht denn doch zu weit.“

„Die Gräfin weiß nichts von meinem Hiersein, und wenn Sie es ihr verschweigen –“

„So erfährt sie es durch Katrin oder den Meßner. Ein Gast ist eine Seltenheit in meinem einsamen Pfarrhause, die Leute reden jedenfalls davon, und wie soll ich dann der Gräfin gegenüber Deine Flucht entschuldigen?“

„Flucht?“ fuhr der junge Officier auf.

„Nun, dafür muß sie es doch halten, da sie Deine Beziehungen zu ihrer Familie nicht kennt.“

„Sie haben Recht,“ sagte Michael mit einem tiefen Athemzuge. „Es wäre Flucht und Feigheit – ich werde bleiben!“

„Ja, vernünftigen Vorstellungen bist Du nicht zugänglich,“ meinte Valentin mit einem flüchtigen Lächeln, „aber sobald man vom Fliehen spricht, regt sich der Soldat in Dir und zwingt Dich, Stand zu halten. – Doch ich muß jetzt sehen, was Katrin schafft; sie scheint wirklich den Kopf verloren zu haben, ich werde ihr wohl mit Rath und That beistehen müssen.“

Michael blieb allein zurück. Er hatte ja fort gewollt, man zwang ihn ja, zu bleiben, und doch wandten sich seine Augen aufleuchtend der Fahrstraße zu, die sich dort drüben aus dem Thale emporwand. Flucht! Der junge Krieger war so empört aufgefahren bei dem Worte, und er war doch seit Wochen auf der Flucht vor einer Macht, der er sich nicht beugen wollte, und die ihn trotz alledem zu erreichen wußte. Als sei sie mit einem Dämon im Bunde, so nahte sie ihm immer wieder, dort unten in dem glänzenden Wogen und Treiben der Gesellschaft und hier in dem einsamen Alpendorfe; gerade dann, wenn er sie am fernsten wähnte, tauchte sie urplötzlich vor ihm auf. Jetzt hieß es wieder einmal ihr Auge in Auge gegenüberstehen, und Michael wußte, was das für ihn bedeutete, aber als er sich jetzt emporrichtete, finster, entschlossen, kampfbereit, da sah er nicht aus, als ob er unterliegen werde.


Die erwarteten Gäste waren zur festgesetzten Zeit eingetroffen, die Gräfin in einem kleinen, eigens für solche Fahrten bestimmten Bergwagen, während ihre Tochter es vorgezogen hatte, den Weg zu Pferde zurückzulegen. Eine Kammerfrau, die mit im Wagen fuhr, und ein gleichfalls berittener Diener begleiteten die Damen, denen sich die Gräfin Hortense ursprünglich hatte anschließen wollen, aber sie litt noch an den Folgen eines Nervenanfalles, der ihr die anstrengende Bergfahrt verbot.

Die Damen hatten gleich nach der Ankunft ihre Andacht in der Kirche verrichtet, und die feierliche Messe fand erst morgen früh statt. Jetzt war es Nachmittag geworden, und der Pfarrer schritt, in Begleitung seiner beiden jüngeren Gäste, langsam durch das Dorf. Die Gräfin, die sich ermüdet fühlte, war im Pfarrhause zurückgeblieben, Michael dagegen hatte sich dem Spaziergange angeschlossen oder vielmehr anschließen müssen, denn Gräfin Hertha, die es gewohnt war, sehr souverain über ihre ganze Umgebung zu verfügen, hatte ihn in einer Weise dazu aufgefordert, die keinen Widerspruch duldete.

Man befand sich bereits in der Mitte des September, aber der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Das machte sich selbst in dieser Höhe fühlbar, es herrschte eine schwüle, drückende Temperatur. Die Matte, auf der Sankt Michael zerstreut lag, stand allerdings noch im hellen Sonnenschein und der Himmel war noch klar, aber die Nebel zogen unruhig an der Bergwand hin, und um die Gipfel, die sich bald verschleierten, bald wieder lichteten, begann sich dunkles Gewölk zu sammeln.

„Ich fürchte, wir werden heut Abend ein Wetter bekommen,“ sagte Valentin. „Es war ja auch ein Tag wie mitten im Hochsommer.“

„Ja, das haben wir auf unserer Bergfahrt empfunden,“ stimmte Hertha bei. „Glauben Sie, daß wir an den Rückweg denken müssen?“

„Nein,“ erklärte Michael mit einem prüfenden Blick nach den Bergen. „Wenn das Gewölk sich dort drüben an der Adlerwand sammelt, wie eben jetzt, hängt es meist stundenlang an den Felsen, ehe es wirklich losbricht, und geht auch gewöhnlich in die Thäler nieder, ohne uns zu berühren. Ein Wetter wird es allerdings geben – da blitzt schon Sankt Michael’s Flammenschwert auf!“

Er wies hinüber nach der Adlerwand, wo es in der That aufblitzte, noch matt und fern, aber doch deutlich wahrnehmbar.

„Sankt Michael’s Flammenschwert?“ wiederholte Hertha fragend.

„Gewiß, kennen Sie nicht den alten Volksglauben, der überall in den Bergen verbreitet ist?“

„Nein, ich bin ja immer nur auf kurze Zeit hier gewesen und kaum jemals mit dem Volke in Berührung gekommen.“

„Nun, jener Glaube sieht in den Blitzen das Schwert des zürnenden Erzengels, das aus den Wolken hervorzuckt, und die Gewitter, die ja oft genug in den Thälern Unheil anrichten, gelten für sein Strafgericht.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_539.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)