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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Denn der Kampf ums Dasein zeigt sich auch hier. Ein Name verdrängt den anderen, ein Bild macht dem anderen das Terrain streitig, ein poetischer Erguß läuft dem anderen den Rang ab. Bedeutende Köpfe nehmen plötzlich einer Unmasse bescheidener Existenzen den Raum weg, leuchten wie die Größen der Weltgeschichte und verschwinden wie sie, entweder noch Gewaltigeren oder dem Schwarm der rudis indigestaque moles Platz machend. Zuweilen fährt ein Sturm der Vernichtung in Gestalt weißender Anstreicherpinsel darüber hin und läßt nichts zurück, als eine fahle, kahle Fläche, auf welche dann die Gegenwart mit mächtigem Ungestüm eindringt. Der Karcer ist alt genug, aber darin von einem Greise verschieden, daß er nur das Jüngste behalten kann. Die Vergangenheit, die Jenem so unauslöschbar treu in der Erinnerung steht, kommt ihm immer von neuem abhanden, und sein Gedächtniß reicht nicht über Jahrzehnte hinaus.

Ja, die Karcer der früheren Zeit selbst sind der Vergessenheit anheimgefallen; wir wissen nur, daß ursprünglich Bürger- und Studentengewahrsam gemeinschaftlich war, daß 1545 die Universität das jus incarcerandi erhielt, das heißt, daß sich die Studenten nicht wie „beliebige Knoten“ auf die Stadtwache schleppen zu lassen brauchten, was gleichwohl vorkam, indem die Wächter der Stadt behaupteten, bei Nacht sei es unmöglich, einen Studenten von einem Schneidergesellen zu unterscheiden, „und man muß ihn darum bei nächtlicher Weyl behalten, bis man ihn kennen kann.“ Deßhalb waren die Scholaren verpflichtet, zur Nachtzeit in Studententracht und mit einem sichtbar brennenden Licht auf der Straße zu erscheinen.

Dic jetzigen Karcerräumlichkeiten, bestehend aus den ebenerdigen Kasematten (vincula) und dem viertheiligen Gewahrsam unter dem Dach des Seitenflügels (carceres), fungiren seit Errichtung des jetzigen Universitätsgebäudes (vergl. Illustration S. 532) unter Karl Philipp im Jahre 1735. Daß im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die Veste Dilsberg bei Neckarsteinach als Karcer für politische Vergehen der Studenten benutzt wurde, ist bekannt, und die dort übliche strenge Zucht erhellt aus der Antwort, welche einst reisenden Engländern zu Theil ward, als sie die Burgverließe Dilsbergs in Augenschein nehmen wollten: „Die Studenten sind fort und haben die Schlüssel mit.“

Doch kehren wir zu den Heidelberger Karcern der Gegenwart zurück! Wir steigen 47 steinerne, mit eisernem Geländer eingefaßte Stufen empor und treten in das „Vestibulum“, die Vorhalle, ein. An der Wand auf der linken Seite erblicken wir einen Wegweiser, der nach den vier Kerkerzimmern hinweist. Sie sind nicht wie die Zellen in den gewöhnlichen Gefängnissen mit prosaischen Nummern bezeichnet; der Studentenwitz hat ihnen Namen verliehen, die folgendermaßen lauten: Sanssouci, Palais royal, Solitude und Villa Trall. Schon hier sind die Wände mit zahllosen Zeichnungen und Inschriften bedeckt. Vor Allem fällt uns ein mächtiger Reitersmann, der einen Humpen schwingt, in die Augen; neben ihm steht der berühmte Zecher und Wächter am Heidelberger Riesenfaß, der Zwerg Perkeo. Darunter lesen wir den Vers, welcher dem Ankömmling als tröstender Gruß entgegenwinkt:

„Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten;
Wie traurig auch herauf Ihr steigt,
Ich bitt’ Euch, thut die Köpfe aufrecht halten,
Auch hujus loci (dieses Ortes) genius ist feucht.“

Unweit davon blickt uns eine Nachbildung des Heidelberger Wrede-Denkmals entgegen; die Figur trägt einen Hut auf dem Kopf, und darunter lesen wir die erklärenden Reime:

„Weil sie mit Schläue auf die tête
Den Hut gesetzt dem Marschall Wrede,
Brummt Altfelix und Rosenthal
Und Roß zusammen auf einmal.“

Unter dem Gewirr der Namen, welche die Wände bedecken und die selbst vermittels rußender Lichtflamme an der Decke angebracht worden sind, treten uns manche von bekanntem und gutem Klange entgegen; wir heben nur zwei: Helmholtz und Häusser, hervor.

Im Karcerfenster.
Nach einer Photographie von G. Pauli u. Co. in Heidelberg.

In welches der vier Karcerzimmer sollen wir zuerst eintreten? Uns lockt zunächst Solitude, über dessen Thür die viel verheißende Inschrift: „Ein fideles Gefängniß!“ prangt. Es muß in der That in diesen Räumen lustig zugehen, denn die heitere Burschengruppe, die unsern Artikel schmückt, steht in dem Fenster von Solitude. Und das Bild ist nicht etwa das Phantasiewerk eines Zeichners; die Mitglieder der „Rhenania“ drängten sich an einem gewissen Tage wirklich so zum vergitterten Fenster, während der Photograph im Nachbarhause seinen Apparat richtete.

Besonders charakteristisch für Solitude ist die Innenfläche der Thür, auf der sich etwa 120 Photographien unter Glas und Kittrahmen befinden, und zwar 45 Rhenanen, 29 Borussen, 17 Guestphalen, 13 Vandalen, 11 Schwaben, mehrere Vertreter auswärtiger Korps und ein Bummler (unter fühlenden Brüsten die einzige Larve!), der seine nur halbberechtigte Anwesenheit in so erlauchter Gesellschaft dadurch schützen zu müssen glaubte, daß er auf seine Photographie schrieb:

,,Is qui hoc tangit, Anathema sit!“
(„Wer hier Hand anlegt, Den treffe mein Fluch!“)

Originell ist das Bild von F. Klingel, einem Mitglied der Suevia. Darunter ist zu lesen: „2 + 1 + 4 + 8 + 10 + 21 + 8 = 54 Tage. Das genügt!“ welchem Ausspruch beizupflichten wir nicht umhin können. – Auch die hochberühmte Familie derer von Bismarck ist vertreten. „F. Graf Bismarck s. m. l. Karcer 27–29 IV. 74!“ lautet die Widmung. – Die charakteristischen Züge des ehemaligen Studiosus und jetzigen Direktors im Reichsgesundheitsamt, G. Wolffhügel, leuchten uns entgegen. Endlich finden wir hier die beiden Guestphalenmitglieder Gebrüder Schön, die sich so ähnlich sahen, daß Einer den Andern im Karcer oder sonstwo vertreten konnte, ohne daß es Jemand gewahr wurde.

An der Wand dieses fidelen Gefängnisses darf selbstverständlich ein Loblied auf Heidelberg und seinen Karcer nicht fehlen, und in der That lesen wir hier, frei nach Goethe’s Mignon:

„Kennst du die Stadt, nach der sich Alle sehnen,
Mit ihrem Schloß an hohen Bergeswänden?
Hast du gehört des Stromes Lob ertönen
Von lust’gen Kehlen durstiger Studenten?
Kennst du sie wohl? Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, du mein Geliebter, zieh’n!

Kennst du das Haus, von Ziegeln ist sein Dach,
Doch glänzt von Farben jegliches Gemach.
Und lust’ge Bilder steh’n und schau’n dich an.
Was hast du denn, du armer Kerl, gethan?
Der Karcer ist’s. Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, Kommilitone, zieh’n!“

Die Krone aller in der Solitude befindlichen Inschriften bildet aber folgender an Ulrich von Hutten erinnernder Ausruf:

O tempora, o mores! In diesem schrecklichen Kerker seufzte ein Opfer moderner Barbarei bei Bordeaux und Sekt. O XIXtes Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben!“

In den drei übrigen Zimmern des Heidelberger Karcers finden wir Aehnliches und Verwandtes, und wir verzichten darum auf nähere Beschreibung derselben. So trennen wir uns von diesen Räumen, die Verse wiederholend, welche vor dem Palais royal geschrieben stehen:

„Auf dem Karcer lebt sich’s herrlich,
Auf dem Karcer lebt sich’s schön.
O wie schrecklich, ach nun soll ich
Von dem lieben Karcer geh’n.

Hätt’ ich doch statt fünf Laternen
Fünfundzwanzig ausgemacht,
Hätte dann statt zwei der Tage
Zehne wohl hier zugebracht.“

Wir steigen nunmehr die 47 steinernen Stufen wieder hinab, gelangen in den Universitätshof und von hier aus durch eine Thür in den Parterregang des Hauptgebäudes. Dort, wo etwas über der Mitte der Südseite die breite, marmorne, früher steinerne Treppe in die oberen Stockwerke führt, gelangt man durch ein Seitengängchen an eine dickeichene, eisenbeschlagene, mit schwerfälligem Riegelschloß versehene niedrige Thür, die sich nur mühsam und unwillig knarrend in ihren eingerosteten Angeln bewegt. Durch dieselbe tritt man gebückt in einen quadergebildeten, ziemlich engen Verschlag, der rechts den Zutritt zum schiefwinkeligen lichten und links zu dem wenige Meter im Geviert betragenden Dunkelkarcer gestattet. Beide sind wieder mit massiven Eichenthüren verwahrt, die in der Mitte eine verschließbare Oeffnung zum Durchreichen von Wasser und Brot besitzen. Auch hier in den engen Kasematten finden wir eine große Anzahl von Inschriften; sie stammen alle aus den Jahren 1768 bis 1785, aus jener längst vergangenen Zeit, wo das Universitätsgericht noch schwere Strafen verhängen durfte. Sie sind indeß nicht heiter und lustig, wie die Wandpoesien der oberen Räume, und ihre Wiedergabe würde wenig zu der gehobenen Feststimmung passen, die jetzt durch die Straßen von Altheidelberg wogt und in welcher aus jungen und alten Kehlen der übermüthige Ruf ertönt: „Vivat concarceria!“ G. W.     




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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_534.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)