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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Lüften jagte ein Falke oder Geier. Mit beschleunigtem Schritt verfolgten wir den grün überschatteten Steig zur Rosenauer Kapelle. Die nächste Lichtung zeigte ein Bild der Zerstörung. Die untergehende Sonne beschien ein Schlachtfeld der Naturgewalten. Hunderte von Stämmen lagen zu Boden geworfen, zum großen Theile schon entrindet. So sieht ein gesprengtes Karré aus, das durch feindliche Schwadronen niedergestreckt worden. Es war ein „Windbruch“, die unverwischbare Spur, daß im Mai sich hier der Frühlingssturm ausgetobt. Den Todtengräberdienst besorgen jetzt die Borkenkäfer. Unweit der Rosenauer Kapelle nahm uns ein entgegengeschickter Wagen in Empfang und führte uns durch das im Mondlicht erglänzende Seebachthal und die Moldau-Mulde nach Ober-Plan, dem Geburtsort Stifter’s.

Am nächsten Morgen sahen wir uns das Häuschen an, in dem Stifter das Licht der Welt erblickte und das seine Mitbürger mit einer Gedenktafel versehen haben. Der noch lebende ältere Bruder des Dichters wies uns verschiedene Reliquien desselben, Briefe, Familienbilder u. s. w. vor und belebte die Erinnerung an dessen Leben und Wirken.

Auf dem Gipfel des Dreisesselberges.

Nun galt es, die Besteigung des etwa 1400 Meter hohen Dreisesselberges nachzuholen. Der höchste Punkt desselben liegt schon in Bayern. Unser Bild zeigt die ungeheuren Granitblöcke, welche die Spitze bekrönen und die eine lebhafte Einbildungskraft wohl für Riesen halten könnte, die vor ihr Fehmgericht Wolken und Stürme forderten. Für den Touristen sind Treppen zur Besteigung der natürlichen Plattform, Bänke, Tische und ein Schutzdach hergerichtet. Nur ein wirkliches Unterkunftshaus mit Restauration wird schmerzlich vermißt, und die darauf abzielenden Wünsche harren noch ihrer Erfüllung. Eine Quelle sprudelt in der Nähe; den Mundvorrath aber muß man sich mitbringen. Trotz dieser Unbequemlichkeiten hatte an dem schönen Augusttage sich hier ein Dutzend Menschen eingefunden; die meisten waren Bayern, welche von ihrer Seite bequemeren Aufstieg nehmen können und namentlich keine Sumpfstellen zu überschreiten brauchen. Luft und Licht waren herrlich, aber auch hier schob sich der Schleier der Maja, welcher diese Erscheinungswelt umhüllt, als dünner, glanzzitternder Fernnebel dazwischen und ließ uns nicht die dahinter gelagerten Alpen erspähen. Alles weist darauf hin, daß man Bergbesteigungen im Böhmerwalde auf den Herbst, oder noch besser auf den Winter verschieben soll, wo die größere Mühe auch mit jener ungetrübten Ausschau gelohnt wird, welche eine dunstfreie Atmosphäre gewährt.

Lucken-Urwald bei Schattawa.

Wir kehrten nach Neuthal zurück und gingen von da ab nach dem schöngelegenen Böhmisch-Röhren, wo uns der Mond und der dunkle Tussetwald in das Schlafzimmer hineinschauten. Am nächsten Tag besuchten wir den Markt Kuschwarda und fuhren dann längs der „grasigen Moldau“ nach Elenorenhain, der berühmtesten Glashütte im Böhmerwalde. – Von hier aus machte ich mit dem Buchhalter der Fabrik, einem Deutschen aus Nordböhmen, und mit einem Forstadjunkten, welcher in freundlicher Weise unsere Führung übernahm, den Ausflug zum Lucken-Urwald bei Schattawa am Fuße des 1350 Meter hohen Kubani. Dieser Besuch der Urwaldsmajestät gehört zu den stimmungsvollsten Erlebnissen meiner Wanderschaft. Die Skizze, welche eine Partie der großartigen Baumwildniß darstellt, kann nur schwach den Eindruck wiedergeben, welchen diese fessellose Natur hervorruft, die hier eine gewaltige Orgie von sprossendem Lebensdrang und erbarmungsloser Zerstörung feiert. Von der Bergstraße blickt man in dieses Chaos von Hochtannen und bärtigen Fichten hinein, zu deren Füßen die gefallenen Brüder wirr durch einander liegen und sich der junge Nachwuchs im Verein mit üppigem Gesträuche drängt. Etwa sechzig Hektaren sind für „ewig“ von der strengen Zucht der Axt befreit, welche Wachsthum und Vergehen regelt. Wir stiegen hinab zu dem Kampfplatz.

Es war eine der schwierigsten und mühseligsten Arten des Anschauungs-Unterrichtes. Die fast vergessenen Turn- und Kletterkünste jüngerer Jahre mußten hervorgeholt werden, damit wir weiter kommen konnten. Da galt es, vorsichtig auf einem quer über andere Baumleichen hingestreckten mächtigen Stamme sich zu bewegen, die dürren, oft in der Hand zerbrechenden Aeste zur Seite zu beugen, von dem schlüpfrigen Moos, welches als grünliches Sterbelaken den Todten bekleidete, nicht abzugleiten. Denn ringsumher hielten andere Bäume ihre spitzen Aeste vor, um den Fallenden aufzuspießen. Aus den morschen Fallstämmen, die man „Ronnen“ oder „Raanen“ nennt, und aus den stehengebliebenen Wurzelstöcken derselben sprießen junge Fichten und Tannen hervor, während unter ihnen Farren und Kräuter sich ungehemmt entwickeln. Aber auch manche schon vollständig ihrer Rinde entblößte Stämme stehen noch aufrecht da und strecken ihre verdorrten Wipfel in die Lüfte –

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_525.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)