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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


„So beweise es mir! Zeige mir endlich einmal volles, rückhaltloses Vertrauen, Du wirst es nicht bereuen. Ich habe gestern erst wieder zürnen und drohen müssen, Du hast mich oft genug dazu gezwungen in der letzten Zeit, und trotz alledem habe ich Dich lieb, Raoul – sehr lieb!“

Die sonst so strenge, befehlende Stimme hatte einen Ton von Güte, ja von Weichheit, und das blieb nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann. Auch in ihm wallte die Liebe zu dem Großvater empor, dem er seit seiner Jugend entfremdet worden war, vor dem er immer nur Scheu empfunden hatte, in diesem Augenblick empfand er nichts davon.

„Ich habe Dich ja auch lieb, Großpapa!“ brach er aus.

„Komm,“ sagte Steinrück, mit einer Wärme, die ihm selten eigen war. „Laß uns einmal eine gute Stunde mit einander haben, wo kein fremder Einfluß zwischen uns steht. Komm, Raoul!“

Er legte den Arm um die Schultern seines Enkels und zog ihn mit sich fort, da wurde die Thür hastig aufgerissen, und Marion erschien.

„Um Gottes willen, Herr Graf, kommen Sie – die Frau Gräfin ist sehr unwohl – sie verlangt nach Ihnen!“

Raoul fuhr bestürzt auf, als wolle er zu der Mutter eilen, hielt aber plötzlich inne, denn er begegnete dem Blick seines Großvaters, der ernst, aber fast bittend auf ihn gerichtet war.

„Deine Mutter hat wieder ihre Nervenzufälle,“ sagte er ruhig. „Du kennst sie ja so gut wie ich und weißt, daß dabei nichts zu besorgen ist. Komm mit mir, Raoul!“

Er hatte ihn nicht losgelassen, Raoul schien mit sich zu kämpfen, nur einige Minuten lang, dann aber versuchte er, sich freizumachen.

„Verzeih, Großpapa – die Mama ist leidend, sie verlangt nach mir – ich kann sie jetzt nicht allein lassen!“

„So geh!“ rief Steinrück hart, indem er ihn fast von sich stieß. „Ich will Dich Deiner Kindespflicht nicht entziehen. Geh’ zu Deiner Mutter!“

Und ohne auch nur einen Blick weiter auf Raoul zu werfen, wandte er sich um und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Sonne und Kind.

Eine Sommertags-Epistel.


„Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Ritter Sonnenschein,
Der bricht mit goldnen Lanzen ein ...“


Zum ersten Male denn hinaus in den lichten, milden Sonnenschein, du Menschenkind! Die Lüfte sind lind; kein rauher Wind stört den jungen Erdenbürger bei seinem ersten Ausgang in Gottes freie Luft, wo er nun im wahrsten Sinne des Wortes erst das Licht der Welt erblicken soll. Die liebe Sonne! Selbst im Winter weiß sie den Mittagsstunden einen angenehmen Charakter zu geben, im Sommer den ersten Morgen- und den späten Abendstunden einen entzückenden Reiz, während sie bei schönem Frühlings- und Herbstwetter wenigstens einen Theil des Tages für das Kindlein verfügbar macht. „Komm heraus zu mir!“ ruft sie dem Kinde durch die dichten Vorhänge der Kinderstube zu, mitleidig lächelnd über die kindische Angst und Scheu mancher Eltern vor Licht und Luft. „Komm heraus und bade dich in meinem erwärmenden, belebenden Schein! Seht, wie in meinem Licht die Blumen ihre Farbenpracht, die Blätter ihr saftiges Grün erhalten, wie die Bäume Blüthen und Früchte ansetzen, die Thiere ein bunteres, schöneres Kleid und ein rascheres Wachsthum zeigen! Warum soll euer Kind Tage, Wochen, Monate lang von meinem belebenden, erquickenden Strahl fern gehalten, zwischen die Wände des Hauses gebannt sein, verurtheilt zu einem recht trostlos öden Dasein? Seine blassen Wangen werden sich röthen, seine Haut wird derber, wetterfester werden, seine Athmung ergiebiger, sein Herz kräftiger, selbst sein Gemüth erheitert sich! Singt ihr doch selbst, ihr thörichten Menschen, vom Sonnenschein, der ,ins Herz hinein’ strahlt. Erfreut ihr euch doch an einem sonnenhaften Lächeln, an einem sonnigen Angesicht. Seht ihr es doch als günstig an für Wachsthum und Gedeihen, wenn Regen im Sonnenschein aufs Haupt träufelt. Kehrt euch nicht daran, ob Winter im Kalender steht! Laßt euch selbst durch Schnee nicht abhalten! Es schadet eurem Kindlein nichts, wenn es – genügend verwahrt – schon nach zwei bis drei Wochen in die freie Natur hinausgetragen wird und die kleinen Augen zu mir emporhebt! Natürlich zu kalt oder gar rauh und windig darf’s nicht sein. Dann will ich mich damit begnügen, durch die Fensterscheiben dem Kinde meinen ersten Gruß zu senden, wenn ihr nur meinen Strahl einlaßt und nicht – unverständiger Weise – dem Kinde ein nach Norden gelegenes Zimmer zum Aufenthalt gegeben habt. Besitzt ihr eine sonnige Wohnung oder doch einen sonnigen Raum, dann will ich schon hineinblicken und eurem Kindlein einen Himmelskuß geben.“

Die liebe Sonne! Als gemüthlich freundliche, behäbige Frau mit einer großen Haube wird sie schon in den Kinderbüchern abgebildet. „Die beste Mutter“ nennt sie Byron, und Hebel schildert sie gar traulich, wie sie früh erwacht, Toilette macht und nach den Kindern sieht, die sie nicht minder liebt und hegt, als die Keimchen des Getreides:

„Aber nun kämmt sich die Sonne, und ist sie gekämmt und gewaschen,
Tritt mit dem Strickzeug schnell sie hervor dort hinter den Bergen,
Strickt und schauet herab, wie eine freundliche Mutter
Nach den Kinderchen sieht.“

Volk und Gelehrte sind darüber einig, sie ist eine prächtige, liebe Frau, die Frau Sonne. Sonntagskinder – und diese haben ja auch eine gewisse Beziehung zur Sonne – hält der Volksglaube für besondere Glückskinder, ja selbst für befähigt, Geister zu sehen. „Sonne und Erde mögen dich in ihren Schutz nehmen,“ lautete ein Segensspruch, den die alten Mexikaner beim ersten Bad des Kindes darbrachten. Freilich hat auch der beschränkte Aberglaube manche unnöthige Furcht vor der Sonne entstehen lassen. Das erste Badewasser gießt man, wie uns Ploß mittheilt, in der Potsdamer Gegend nicht in die Sonne, „sonst bekommt das Kind Sommersprossen“, oder „das Kind verbrennt“ nach Ansicht der schlesischen und brandenburgischen Landleute. Die Windeln vor der Taufe in der Sonne zu trocknen, hält man in der Schweiz für gefährlich, „weil alsdann das Kind behext wird“, und in Steiermark schützt man das Kind bei dem Gang zur Taufe ängstlich mit Tüchern und Schirmen, „damit es nicht Sommersprossen bekommt“, während man es in Schleiz vor der Taufe in die Sonne hält, „damit es eine schön weiße Gesichtsfarbe erhalte“. Die Sonne lächelt über diese Gegensätze in Volksgebräuchen und Aberglauben still und erhaben. Ist sie doch von Alters her den Kleinen eine Wärme- und Lebensspenderin und soll doch selbst das Wagenrad, welches man dem Storch als Grundlage für sein Nest auf den Dachfirst setzt, nach uraltem Brauch nur ein Symbol des Sonnenrades sein. So lange es religiöse Vorstellungen und einen Naturdienst giebt, so lange hat man auch die Sonne in Beziehung zur werdenden Generation, zum aufwachsenden Menschen gebracht. Der Buddhismus, der Schiva-Kultus und die ägyptische Götterlehre verehren die Sonne als Lebens- und Segensspenderin eben so, wie die Naturvölker Südamerikas es thun, welche sie als „Mutter des Tages und der Erde“ betrachten. Warum sollen wir uns spröder gegen dies „rosige Licht“ verhalten, von dem Heine singt:

„Das rothe, flammende Sonnenherz
Goß seine Gnadenstrahlen
Und sein holdes, liebliches Licht
Erleuchtend und wärmend
Ueber Land und Meer.“

Möge sich immer das kleine Kind, das des Lichtes bedarf, in deinem Glänze sonnen, du liebe Sonne! Möge es aus dunklen Kellerwohnungen, aus dumpfigen kühlen Höfen hinausgetragen werden, wo die Luft durch das Licht gereinigt wird, wo seine Lungen mehr Kohlensäure ausathmen, mehr Sauerstoff aufnehmen, als im dunklen Zimmer, wo gewissermaßen Haut und Augen „mit athmen“, ja selbst der Muskel mehr Kohlensäure ausscheidet. Ist es an sich schon eine Wonne, in der schönen reinen Morgenluft Leib und Seele zu baden, wie viel mehr, wenn die Sonne ihr Kämmerlein verläßt:

„Solch eine prächtige Frau und doch so gütig und freundlich.“

Nun steigt sie höher und höher am Himmel empor, erst nach und nach den Erdboden erwärmend. Da heißt es, das Kind – und was besonders wichtig ist, auch dessen Betten – lüften, ja, so lange die Wärme noch mäßig ist, auch auf trockenem Sande sich sonnen lassen. Der von der Sonne mäßig erwärmte Sand, dies natürliche Sandbad, ist, wie Viele vom Meeresstrande her sich erinnern, geradezu ein wohlthätiges Heilmittel; Hunderte von Kindern kriechen, sitzen und liegen in dem weißgelblichen Dünensande, unbekümmert darum, ob Frau Sonne dabei die Haut bräunt und ihrem Farbstoff einige tiefere Töne giebt. Wandern wir durch ein Dorf, so fallen uns bei dem Anblicke der Kinder die Verse des Freiherrn von Eichendorff ein:

„Die Gegend lag so helle,
0Die Sonne schien so warm;
Es sonnt sich auf der Schwelle
0Ein Kindlein krank und arm.“

Nicht nur die größeren, kräftigen, bausbäckigen Kinder, sondern auch die kleinen, zarten, schwächlichen und kranken liegen fast den ganzen Tag in der Sonne; diese ist gerade den Letzteren eine sorgsame Pflegerin, in deren Obhut sie schneller gesund werden, als die Stadtkinder in ihren durch Vorhänge, Vitragen, Jalousien, Marquisen und Rouleaux abgesperrten Kinderstuben oder auf ihren dem Staub und Ruß ausgesetzten Veranden.

Eins läßt sich ihnen durch allen Komfort nicht ersetzen: „Die liebe Sonne“.

Aber, ach, auch die Sonne hat kein fleckenloses Licht. Sie scheint nicht bloß über Gerechte und Ungerechte, sondern auch über Verständige und Unverständige, welche es nicht zu begreifen vermögen, daß ein Zuviel des Guten an Sonnenlicht und Sonnenwärme dem Kinde Tod und Verderben anstatt Heil, Genesung und Segen spenden kann. Die Erfahrung lehrt aber, was die silbernen Pfeile zu bedeuten haben, mit denen einst Apollo, der Sonnengott, die Menschen hinstreckte; denn ein voller Köcher solcher todbringender Strahlen fehlt der Sonne nicht.

Wenn der Hochsommer ins Land gegangen, so kommen jene Tage, an denen das Feld „verbrannt von scheitelrechter Sonne Gluthen“ daliegt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_522.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2023)