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machen. Er wurde redselig. Mehr als einmal mußte ich ihm Aufmerksamkeit auf die Pferde empfehlen, doch immer von Neuem erzählte er irgend eine grausige Geschichte, wo doch das Wetter an Graus schon genug bot.

Noch kurze Zeit, und wir hielten unter dem landesüblichen, scheunenartigen Vordache des Heidenhofes.

Ein matter Lichtschimmer blickte durch das Fenster. Ich rief so kräftig wie möglich, aber Niemand kam; die Stimme mochte auch im Tosen des Sturmes verhallt sein. Da der anscheinend ängstliche Nissen erklärte, bei den unruhig gewordenen Pferden nicht vom Bocke steigen zu können, mußte ich allein heruntertappen.

In demselben Augenblick aber, wo ich festen Boden unter den Füßen fühlte und dem Kutscher noch einige Befehle zurufen wollte, kam mir dieser schon zuvor. Mit einem: „Hier bleibe ich nicht!“ peitschte er die Pferde an und war in der nächsten Sekunde meinen Augen im Dunkel der Nacht entschwunden.

Da stand ich, mit Koffer und Aktenmappe beladen, im Sturm und Regen, vor der Räuberherberge allein! Meinen Freund Christian so von mir scheiden zu sehen, ärgerte mich gewaltig. Seine Furcht vor dem Hause mußte in irgend einer Weise gerechtfertigt sein, unmöglich wäre er sonst davongefahren. Daß meine Stimmung in dieser Lage keine angenehme wurde, kann sich Jeder leicht vorstellen.

Ein längeres Zaudern oder Ueberlegen, was zu thun oder zu lassen sei, verbot sich von selbst.

Die Hausthür war verschlossen. Erst auf längeres, nachdrückliches Pochen hörte ich schwere Tritte nahen. Es wurde geöffnet, und vor mir stand ein riesengroßer, breitschulteriger Mann, in Wahrheit eine Hünengestalt. Eine kurze dunkelblaue, zweiknöpfige Jacke, bocklederne enganliegende Beinkleider und die unbeholfenen Holzschuhe gaben ihm das echte Gepräge des Geestbauern. Das borstige, ins Röthliche spielende Haar und der dänisch gestutzte Kinnbart machten mir, im Verein mit dem nichts weniger als einladenden Blick, durchaus keinen anheimelnden Eindruck. In meiner zierlichen Mittelfigur kam ich mir ihm gegenüber wie der Däumling vor, der dem Menschenfresser begegnete.

Er ließ mich wortlos in das große Wirthszimmer treten, das, mit einigen Tischen und Bänken besetzt, die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Nachdem er die Thür wieder verschlossen und verriegelt, musterte er mich eine Weile von Kopf zu Fuß und fragte rauh:

„Was wollen Sie hier?“

Mit möglichst viel Ruhe erklärte ich meine Lage und bat um Unterkunft. Als ich zum Schluß den Namen des Kutschers erwähnte, zog ein verächtliches Lächeln über das breite Gesicht, und leise, doch für mich verständlich, murmelte er vor sich hin:

„Der Teufel möge ihn holen!“

Wie mit seinen Gedanken am Kreuzweg stehend, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht, fuhr er sich mehrere Mal mit der Riesenhand durch das Haar. Die Wage des Schweigens mußte schwerer sinken, denn plötzlich machte er kurz Kehrt und klappte quer durch das Zimmer einer an der entgegengesetzten Seite befindlichen Thür zu, durch die er verschwand.

Die Einleitung zum Räuberdrama ließ nichts zu wünschen übrig, und lebhafte Erinnerungen an Jugendmärchen tauchten auf. In richtiger Reihenfolge wurde jetzt wohl das große Messer geschliffen, dann kam der Schreckliche wieder, schlachtete mich gemüthlich ab, schleppte die Ueberbleibsel in das Todtenmoor, und Christian Nissen behielt Recht. Außer Regenschirm und Taschenmesser besaß ich keine Waffen; selbst eine Flucht war nicht möglich, die vergitterten Fenster und die verschlossene Thür sorgten dafür.

Der Räuberhauptmann schien indeß meine Zeit noch nicht für gekommen zu halten – weder er noch sonst Jemand zeigte sich. Aber auch mich plagten andere Sorgen; ich war durch und durch naß, ohne Kleidung zum Wechseln, in einem Raume, wo kein Ofen brannte – befand mich also in einem keineswegs beneidenswerthen Zustande.

Die Wanduhr schlug zehn, halb elf Uhr, und noch immer kümmerte sich kein Mensch um mich. Mindestens ein dutzendmal hatte ich das Zimmer schon durchmessen. Die kleine Lampe auf dem Schenktische knisterte bedenklich, auch sie schien vergessen. Immer trüber und trüber wurde ihr Schein und hüllte den weiten Raum in unbehagliche Dämmerung. Ich räusperte, huftete, nieste, pfiff, sang, Alles vergebens.

So konnte es nicht länger fortgehen. Auf die eine oder andere Weise mußte Klärung geschafft werden. Irgend eine mitleidige Seele gab es sicherlich auch hier – aber wo sie finden?

Die Thür, durch welche der Riese verschwunden, war offen. Die Lampe in der Hand, begab ich mich auf die Wanderung. Stufen führten hinab; ich folgte ihnen. Licht blinkte mir entgegen. Ich ging dem Scheine nach, öffnete eine zweite Thür und stutzte. Eine große, düstere Küche lag vor mir, die reine Hexenküche aus dem Märchen. Auf dem Herde brannte offenes Feuer, darüber hing an einer Kette ein Kessel. Eine alte Frau, deren grausträhniges Haar sich wirr um die Schläfe wand, stand davor und rührte. Ein schwarzer Kater saß daneben und sah mich mit seinen grünen Augen herausfordernd an, während ein gezähmter Rabe, den Kopf unter den Flügeln, auf einer Stuhllehne hockte. Der Sturm heulte durch die Esse, stieß den Rauch zurück, und der Widerschein der prasselnden Flamme lag grell auf dem Antlitz der Alten.

Sie hatte mein Eintreten offenbar nicht bemerkt. Erst auf das „Guten Abend!“ sah sie sich mit schreckensvollem Aufschrei um. Es wurde mir daraus klar, daß sie keine Kenntniß von meiner Anwesenheit im Hause besaß. Ich beruhigte sie mit einigen Worten, führte mich noch einmal als obdachsuchender Reisender ein und bat um eine Lagerstatt und um etwas zu essen und zu trinken. Ganz verstört folgte sie meiner Rede, und es bedurfte langer Minuten, bis sie sich soweit gefaßt hatte, mir brockenweise die räthselhafte Antwort zu geben:

„Aber wissen Sie denn nicht, wie es hier steht – – der Heidenhofbauer – und – und – und –“

Damit war es aus. Was mit dem Hofbauer vorlag, erfuhr ich nicht. Mit Gewalt das hier obwaltende Geheimniß zu lüften, verspürte ich keine Lust; ich wäre am liebsten trotz Regen und Sturm wieder in die Nacht hinausgegangen, aber der Bauer hatte ja die Thür fest verschlossen, und das Oeffnen derselben wollte ich nicht verlangen, um keine Zeichen der Furcht oder Unruhe zu geben. Das endliche Ergebniß des Küchenintermezzos war, daß die Alte versprach, mir Essen und Nachtlager zu beschaffen und die Ingeborg zu rufen.

Ich wanderte hierauf in die Wirthsstube zurück.

Also noch eine dritte Person sollte ich kennen lernen. Wer war Ingeborg? Wenn der schöne Name auch im nördlichen Schleswig nicht selten ist, reizte er doch die Neugierde. Ich saß noch in Gedanken vertieft, als es an die Thür klopfte. Auf das „Herein“ that sich die Thür auf, und wer trat über die Schwelle?

Ich sehe es noch vor mir, dieses Mädchen, von einer Schönheit und einem Liebreiz, wie ich kaum jemals etwas Aehnliches geschaut. Gleich einer Fee, die mich aus diesem Zauberschlosse zu erlösen kam, erschien es mir. Die hohe, schlanke und doch volle Gestalt besaß etwas Königliches. Das überreiche blonde Haar wallte in Goldschimmer lose den Rücken herab. Eine schneeweiße Blouse fügte sich an den groben eigengemachten Hausrock. In der einen Hand das Licht, in der andern ein Tablett, auf dem sich Brot und Wein befand, schritt sie auf mich zu. Ihr großes tiefblaues Auge ruhte durchdringend auf mir, und wie unter einem Banne stand ich unter seinem Einfluß.

Sie setzte schweigend das Gebrachte vor mich hin, und die darauf folgende Bewegung ließ schließen, daß auch sie mich wieder allein lassen wollte. Ihr Entschluß wurde jedoch schwankend, sie wandte sich wieder um und fragte mit volltönender Stimme:

„Was führte Sie zu dieser Stunde nach dem Heidenhofe?“

Ein Anflug von besserer Erziehung, wie man ihn nicht selten bei den Töchtern der dortigen reicheren Hofbesitzer trifft, klang aus dem ganzen Tonfall wider und versprach wenigstens von dieser Seite keine rauhe Räuberbehandlung.

Diplomatische Geheimnisse besaß ich nicht, und was ich schon der Alten und dem Hofbauern gesagt, wurde zum dritten Mal Wiederholt. Das Mädchen hatte sich inzwischen auf die Bank mir gegenüber gesetzt. Die schöne und doch arbeitsgewohnte Hand stützte Kopf und Stirn, und nur mitunter schlug sie die langbewimperten Lider gegen mich auf.

„Und was hat Ihnen mein Vater gesagt?“ fragte sie von Neuem, als ich schwieg.

Ich konnte nur die Wahrheit erwidern: „Nichts!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_506.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2022)