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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 29.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Elmsdorf, die Besitzung des Herrn von Reval, lag nicht allzuweit von der Stadt entfernt. Es war kein altes Bergschloß, mit Wald- und Jagdrevier und einer historischen Vergangenheit wie Steinrück, sondern ein moderner, freundlicher Wohnsitz, den seine schöne Lage zu einem sehr angenehmen Sommeraufenthalt machte. Das Haus, eine geräumige Villa mit Balkon und Terrassen, war von einem nicht großen, aber vorzüglich angelegten Park umgeben und die innere Einrichtung zeugte, ohne grade glänzend zu sein, von dem Geschmack und dem Reichthum der Bewohner.

Oberst Reval hatte vor drei Jahren seinen Abschied genommen, in Folge einer Verwundung, die er im letzten Kriege erhalten. Seitdem lebte er mit seiner Gemahlin im Winter in der Hauptstadt und im Sommer regelmäßig in Elmsdorf, das er aus einem einfachen Landgute zu einem höchst behaglichen Wohnsitz umgeschaffen hatte.

Michael Rodenberg, der in dem Regimente des Obersten diente und später sein Adjutant gewesen war, hatte sich von jeher einer besonderen Auszeichnung von Seiten seines Chefs erfreut, und selbst nachdem dieser den Dienst quittirt hatte, gab er dem jungen Officier noch vielfache Beweise seines Wohlwollens.

In Elmsdorf fand heute eine größere Festlichkeit statt. Man feierte den Geburtstag der Frau von Reval, und da das reiche, gastfreie Haus vielfache Beziehung in der Umgegend hatte, so war die Gesellschaft auch sehr zahlreich. Michael’s Erscheinen verstand sich von selbst, aber auch Professor Wehlau und Hans hatten Einladungen erhalten. Leider mußte man darauf verzichten, den berühmten Gelehrten unter den Gästen zu sehen. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, in Wahrheit aber verspürte er keine Lust, jetzt in Gesellschaft zu gehen, wo die Eigenmächtigkeit seines Sohnes ihn noch immer mit Empörung erfüllte und seine Stimmung in höchst bedenklicher Weise beeinflußte. Die beiden jungen Männer waren daher allein nach Elmsdorf gefahren.

In den lichtstrahlenden Räumen der Villa empfingen Herr und Frau von Reval ihre Gäste mit jener Liebenswürdigkeit, die ihr Haus zum Mittelpunkt der dortigen Geselligkeit machte. Hans Wehlau rechtfertigte auch hier die Behauptung seines Vaters, daß er ein Glückskind sei, dem sich überall Thüren und Herzen öffneten, ohne daß er sich besondere Mühe darum gab. Er war der Dame des Hauses kaum vorgestellt worden, als er auch schon ihre Gunst erobert hatte, alle Welt fand ihn liebenswürdig, und er bewegte sich auf dem ihm völlig fremden Boden mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, als ob er von jeher dort verkehrt hätte.

Um so fremder fühlte sich Michael, der weder die Neigung noch die Fähigkeit besaß, so leicht und schnell Beziehungen anzuknüpfen. Auch er kannte, mit Ausnahme des Oberst und seiner Frau, Niemand in der Gesellschaft, und die flüchtigen Vorstellungen der verschiedensten Persönlichkeiten und die noch flüchtigeren Gespräche, die sich daran knüpften, interessirten ihn wenig. Das glänzende, heitere Treiben, in dem Hans schwamm und plätscherte, wie der Fisch


Gustav Freytag.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_501.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)