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Vertrauen sich geschlichen hätten, um sich einen ungebührlichen Einfluß auf das Staatswesen zu verschaffen: es geschah nichts von dem. Als der König endlich selbst anfing, untergeordnete Personen mit wichtigen Aufträgen zu betrauen, verhallten diese Aufträge wirkungslos, sobald sie den regelmäßigen Gang des Staatswesens zu stören drohten.

Was den unglücklichen König noch am längsten mit der Welt, mit dem Geiste seiner Zeit im Zusammenhange hielt, war seine Liebe zur Kunst. Noch im letzten Jahre seiner Regierung führten ihn seine nächtlichen Theatervorstellungen nach München; die Pläne zu seinen Bauten brachten ihn mit künstlerischen Fragen immer wieder in belebende Berührung. Diese Saite seines Geistes blieb hell und schwungvoll bis zu seinem Untergange. War auch in seinen Prachtschlössern Vieles nur Ausgeburt wechselnder Laune, vieles Andere bloß provisorisch, auf die Wirkung des Augenblicks berechnet: ein fein geschulter Geschmack zeigt sich unzweifelhaft in diesen Schöpfungen. Aber wieviel von ihnen wird erhalten bleiben? Einige dieser Schlösser sind allen Wetterstürmen des Hochgebirges ausgesetzt, wie der Linderhof und der Märchenbau auf dem Schachen. Das fluchbeladene Schloß zu Herrenchiemsee, das so viele Millionen verschlang, ist unvollendet und wird es wohl bleiben. Nur die romanische Königsburg Neuschwanstein scheint gewaltig genug, um die Stürme der Zeit überdauern zu können; aber auch an ihrem Felsenfundamente nagen schon unterirdische Naturkräfte.

Und während der König an diesen Schlössern baut, von welchen zwei für großes glänzendes Hofleben berechnet sind, faßt ihn selbst sein schauerliches Geschick immer mächtiger an. Der Verkehr mit Menschen wird ihm nach und nach geradezu schrecklich; fürchterliche Wahnvorstellungen und Gesichte quälen ihn. Die aberwitzigsten Pläne schießen durch sein krankes Gehirn. Er faßt Selbstmordgedanken; er äußert die Absicht, sein Land zu verkaufen und ein neues mit absolutem Regiment zu gründen; er wünscht, seine Residenz und sein Volk zerstören zu können. Ueberschwängliche Liebe und glühender Haß gegen einzelne Personen wechseln stürmisch in dem schwer erkrankten Gemüth. Die Minister bezeichnet er mit gräßlichen Schimpfworten; die Diener werden aufs Schwerste wegen geringfügiger Fehler mißhandelt, ein Kammerlakai darf ein Jahr lang nur mit schwarzer Gesichtsmaske vor dem König erscheinen. Aufträge, Geld zu beschaffen, ergehen überallhin, während die Verlegenheiten der Kabinetskasse immer größere werden. Und zuletzt erläßt der verzweifelnde Monarch Todesurtheile nach allen Seiten; er verurtheilt seine Minister, seine Lakaien, die ihn bedienenden Soldaten zum Tode. Er selbst wird geradezu ein Phantom, unsichtbar und unfaßbar. Die dringendsten Vorstellungen der Minister läßt er unbeantwortet; er eilt, wie von Furien gepeitscht, von einem seiner Bergschlösser zum anderen und trägt sich dabei doch immer wieder mit Entwürfen zu neuen Prachtbauten. Und während seine Todes- und Verbannungsurtheile unvollstreckt bleiben, streut er immer noch Geld und Geschenke mit vollen Händen aus.

So waren die Zustände unhaltbar geworden. Es mußte Aenderung geschaffen werden. Mit schwerem Herzen entschloß sich der Oheim des Königs, Prinz Luitpold, zur entscheidenden That. Man sandte eine Staatskommission nach Hohenschwangau zum Könige; und Tags darauf, am 10. Juni 1886, erließ Prinz Luitpold eine Proklamation, in welcher er dem bayerischen Volke bekannt gab, daß er die Regentschaft für den schwer erkrankten König übernehme. Tief bewegt, aber nicht unvorbereitet, und überzeugt von der unerbittlichen Nothwendigkeit dieses Schrittes nahm man in München die Proklamation auf. Anders gestalteten sich die Dinge in Hohenschwangau. Ihr Verlauf ist allgemein bekannt. Der Widerstand des kranken Königs wurde gebrochen und seine Uebersiedelnng nach dem Schlosse Berg bewirkt.

Und nun folgen die Ereignisse in schauerlicher Schnelligkeit. Stunde um Stunde verrinnt, während das schnaubende Viergespann den König hinausführt ins Flachland, zu den vergitterten Gemächern, die man auf Schloß Berg für den entthronten Monarchen bereit hält. Gegen Mittag empfängt ihn der grüne Park am Starnberger See. Der Tag vergeht ruhig; ebenso die Nacht. Am Pfingstsonntag Vormittags macht der König mit dem Irrenarzte Direktor v. Gudden einen Spaziergang im Park und führt denselben zu einer laubumschatteten Bank unweit des Ufers. Wärter halten sich in ehrerbietiger Entfernung. Dann speist der König allein zu Mittag; mit abgestumpften Messern, da ihm alle schneidigen Werkzeuge aus dem Wege geräumt sind.

Der Arzt ist höchlich zufrieden. Er telegraphirt nach München: „Hier geht Alles wunderbar gut!“ Umsonst warnt ihn die Umgebung des Königs, der scheinbaren Ruhe desselben nicht zu trauen. Vergebens bittet ihn der Assistenzarzt um Vorsicht. Wie am Abend der König den Spaziergang zu wiederholen wünscht, begleitet ihn v. Gudden abermals. Wärter werden den Beiden vom Assistenzarzt nachgeschickt; aber der Direktor, vertrauend auf seine Körperkraft und auf die geistige Macht, die er seit dreißig Jahren Geisteskranken gegenüber ausgeübt hat, winkt den Wärtern, sich zu entfernen. So kann das Entsetzliche geschehen, ohne daß ein Auge zusieht. Ein Schleier, schwarz wie die tiefste Nacht, liegt auf dem, was folgt. Die Spuren beider Männer führen in den See; sie lassen auf einen Kampf zwischen dem König und seinem Arzte schließen, in welchem der Erstere siegreich blieb. Und danach findet man in später Nacht, nach dreistündigem Suchen Beide todt, wenige Schritte von einander entfernt, im See, an einer bloß vier Fuß tiefen Stelle. Ob der König in den See geeilt war, um den Tod zu suchen, oder um als guter Schwimmer durch das Wasser zu entfliehen, wird wohl ewig unenträthselt bleiben. Sicher ist nur und unzweifelhaft, daß der Arzt ihm nacheilte und ein Opfer seiner Berufstreue ward, aber auch ein Opfer jener edlen Humanität, die es ihm zum Grundsatz gemacht hatte, seine Kranken so wenig wie möglich zu belästigen und ihrer Freiheit zu berauben.

Während man im Park noch sucht und sucht, sinkt die Nacht über die Landschaft herein. Eine schauerliche Nacht! Regenschweres schwarzes Gewölk wälzt sich über die finstre Seefläche; am Ufer ächzen die hohen Bäume, und unruhig plätschern die Wellen an den fahlen Strand. Lichter irren gespenstig durch das nachtdunkle Buschwerk und werfen verlornen Schimmer in den See hinaus. Da draußen aber, zwischen dem Gewölk und der Wasserfläche ist es, als entfernte sich langsam ein breiter grausiger Schatten. Das Unnennbare, das den König zwanzig Jahre lang verfolgt hatte im einsamen Bergwald wie in den glanzdurchleuchteten Sälen seiner Residenz, das ihn Nachts aus dem Schlafe gepocht, das ihm mit seinem schreckhaften Blicke den Gedanken verwirrt, mit seinem Abgrundhauche die Seele vergiftet hatte: es hat endlich sein Werk vollbracht!

Ein Wehruf drang durch ein ganzes Volk. Und ganz Europa sandte seine Kränze an den Sarg des Herrschers, der einst in so strahlender Schönheit und Jugend seine Laufbahn begonnen und nun still und stumm im königlichen Schlosse aufgebahrt lag. Am Sonnabend den 19. Juni zog das endlose Trauergeleit durch die Straßen Münchens. Vereine, Korporationen und Schulen eröffneten den Zug, ihnen folgte der Klerus; dann fünfundzwanzig Gugelmänner[1] in der historischen schwarzen Tracht mit weißen brennenden Kerzen. Hinter dem Wagen, der die Königsleiche in die düstere Gruft der Michaelskirche brachte, schritt durch das lautlos starrende Volk der Oheim des todten Königs, der jetzige Reichsverweser von Bayern. Und hinter diesem folgten der Kronprinz des Deutschen Reiches an der Seite des Kronprinzen von Oesterreich und andere Vertreter fürstlicher Häuser. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit der Kronprinz des Deutschen Reiches durch die jauchzenden Straßen von München dem Könige sein siegreiches Heer zugeführt hat – jetzt geleitete er den Todten zum Heere der Todten.

Wie aber die Gruft den einstigen König aufgenommen hat und Wagen auf Wagen das Trauergeleit wieder von dannen führt, sieht das immer noch stumm die Kirche umstehende Volk eine schwarze Gewitterwolke über dem hohen Kirchendach. Und kaum sind die Trauergesänge verstummt, so öffnet sich die Wetterwolke; eine ganze Feuergarbe von Blitzen zuckt über Kirche und Stadt hin, und ein einziger grausiger Krach erschüttert die lautlose Menge. – Damit ist das Verhängniß eines Königs zu Ende.


  1. Nach einer alten Verordnung gehen beim Begräbnisse eines Mitgliedes des bayerischen Königshauses 24 Männer in der Gugel mit dem königl. Wappen und doppelt brennenden weißen Kerzen, ein fünfundzwanzigster aber mit dem Bildnisse des h. Georg vor dem Sarge. Die Gugel bedeutet eine Kapuzentracht, welche nur Oeffnungen für die Augen und die Lichter enthält. Anfangs wurde sie von Mönchen getragen, zuletzt war sie bei Processionen, Bitt- und Bußgängen in Gebrauch.




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