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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 28.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Menschenleben und sie wiegen doppelt schwer, wenn sie in die Entwickelungszeit eines Menschen fallen, hier aber grenzte die Wandlung, die sie hervorgebracht hatten, doch an das Wunderbare. Der einstige Pflegesohn des Försters Wolfram und der junge Officier, der soeben eintrat, waren zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die auch nicht einen Zug mit einander gemein hatten.

Hübsch war Michael Rodenberg allerdings nicht geworden, in dem Punkte stand er unbedingt hinter Hans Wehlau zurück, aber er war eine von jenen Erscheinungen, die man nirgends übersieht. Die kraftvoll markige Gestalt schien wie geschaffen für die Uniform und den Degen an der Seite, sie hatte das Ungelenke des Knaben abgestreift und dafür die straffe Haltung des Soldaten angenommen. Das blonde Kraushaar hatte, ohne von seiner Fülle und Ueppigkeit etwas einzubüßen, sich doch zur Ordnung bequemt; und der blonde Vollbart umrahmte ein Gesicht, das allerdings keinen Anspruch auf Schönheit machen konnte, aber auch dessen nicht bedurfte. Es war eben kein Jünglingsantlitz mehr, der energische, charaktervolle Kopf schien einem frühgereiften Manne anzugehören, vielleicht zu früh gereift, denn er hatte einen Zug von Ernst, ja von Härte, der sonst bei der Jugend nicht zu finden ist.

Auch die Augen verriethen nichts mehr von der einstigen Träumerei, der Blick war fest und scharf geworden, aber jugendfroh und begeistert zu blicken hatten diese Augen nicht gelernt. Es lag etwas Eisiges darin, wie überhaupt in dem ganzen Wesen des jungen Mannes, das nur vorübergehend im Gespräch von einem wärmeren Hauche belebt wurde, aber wie er so dastand, fest, energisch, hochaufgerichtet, war er das Urbild eines Soldaten, vom Scheitel bis zur Sohle.

„In Uniform?“ fragte der Professor befremdet, als Michael mit einem kurzen Morgengruß näher trat. „Hast Du hier einen officiellen Besuch zu machen?“

„Theilweise, ja, ich muß nach Elmsdorf hinüber. Mein ehemaliger Regimentschef, der Oberst von Reval, bringt, seit er den Abschied genommen hat, stets die Sommer- und Herbstmonate auf seiner dortigen Besitzung zu. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich schon länger hier bin, denn ich fand gestern bei der Ankunft einige Zeilen von ihm vor, die mich für heute nach Elmsdorf einladen. Die Tante wird mich hoffentlich entschuldigen, der Oberst hat mir stets viel Freundlichkeit erwiesen.“

„Du warst ja immer sein besonderer Günstling,“ mischte sich Hans ein. „Als er nach Beendigung des dänischen Krieges zurückkam, hat er den Papa eigens aufgesucht, um ihm zu dem Besitz dieses ausgezeichneten Sohnes zu gratuliren. Ich war damals wüthend, denn ich bekam wochenlang nichts weiter zu hören, als Loblieder auf Dich, mit sehr bedenklichen Seitenblicken auf meine Wenigkeit, Deine Heldenthaten waren mir im höchsten Grade unbequem.“

„Zu Deinem Besitz hat mir allerdings noch Niemand gratulirt, am wenigsten während Deiner Universitätszeit,“ sagte Wehlau mit einiger Schärfe. „Uebrigens


König Otto I. und König Ludwig II. im Knabenalter.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_481.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)