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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

gegen die Thür, als die von inwendig aufgemacht wird, und Jettchen dasteht. Ich werd's mein Lebtag nicht vergessen, wie die ausgesehen hat: wie der Kalk an der Wand mit ein Paar so großen schwarzen Augen, daß ich sie kaum wieder erkannte. Und sagt ganz ruhig. wir wollten gewiß ihren Vater sprechen; das sei aber unmöglich, denn er sei todt."

„Was?" rief ich entsetzt, „todt?"

H. H. kraute sich den breiten Schädel, während die Frauen niederwärts blickten, und für einige Momente eine unheimliche Stille in dem Zimmer herrschte.

„Wie ist denn das gewesen?" fragte ich unsicher.

„Ich weiß es selbst nicht," erwiderte H. H., nachdem er sich zu stärken, einen mächtigen Schluck von dem „Fränenzimmergetränk" genommen. „Sie sagen ja, daß wir ihn auf dem Gewissen hätten; aber er war schon die ganze Zeit in einer mächtigen Aufregung gewesen, was ja auch begreiflich ist, und als er nun die ganze Menge die Straße herauf gegen sein Haus kommen sah, das hat ihm den Rest gegeben. Er ist in sein Komptoir gelaufen - wissen Sie, Lothar, gleich rechts, wenn man 'rein kommt - und hat wohl noch schnell die wichtigsten Sachen aus dem eisernen Schrank nehmen wollen, aber so weit ist er gar nicht mehr gekommen. Sondern nur bis zu dem kleinen schwarzen Sofa - wissen Sie, Lothar und da lag er, mausetodt, und seine Frau kniete davor und hatte ihren Kopf an seiner Schulter, und richtete sich auch nicht auf und blickte sich nicht um, als ich und ein paar Andere, die mit mir hereingekommen waren, in der Thür standen, und Jettchen, wieder ganz ruhig, zu mir sagte: Sie sehen, daß ich Sie nicht belogen habe. Nun sagen Sie es denen da draußeu, daß wir hier doch in Ruhe weinen können.' Na, Lothar, ich habe die Israels nie leiden mögen; hatte auch weiter keine Ursache dazu; aber ein schlechter Kerl bin ich nicht, und als das Mädchen so sprach und mich wieder mit den großen schwarzen Augen anblickte, daß man es gar nicht beschreiben kann, da wurde mir doch ganz kurios zu Muth, und ich hätte viel darum gegeben, wär' ich zehntausend Meilen weit weg gewesen. Und wie ich da noch so stehe und nicht weiß, was ich sagen oder thun soll, wird draußen, wo es inzwischen ruhig gewesen war - oder hatte ich den Lärm nur nicht mehr gehört? - ein mordsmäßiges Geschrei: die Soldaten! die Soldaten! Und richtig, als ich herauskomme, sehe ich, wie sie von der Hafenseite heraufmarschiren, über die ganze Breite der Straße, und voran zu Pferde der Major."

„Von Vogtriz?" rief ich.

„Na, natürlich! er war ja schon seit dem Frühjahr wieder zurück, weil er vor Paris verwundet war. Darüber war denn der Friede gekommen, und er war gleich bei uns geblieben; war auch, glaube ich, noch nicht ganz auskurirt, und das Bataillon war jetzt auch wieder eingerückt, aber erst vor acht Tagen. Na, Lothar, jetzt kriegte ich es aber mit der Wuth. Was? erst sieht man ruhig zu, daß der arme Mann ausgewuchert und haus- und brotlos wird, und dann bringen sie uns unsere Stadtjungens, die wir auf unsere Kosten in den bunten Rock gesteckt haben, und die Jungens vom Lande, deren Väter auch nicht besser dran und ebenso in den Händen der Juden sind, und sollen uns Alten Mores lehren und, wenn wir nicht Order pariren, mit blauen Bohnen traktiren? Na, das schrie ich denn dem Major zu, als er so weit herangekommen war. Er hat geantwortet: daß es ihm selbst leid thue; aber er habe seinen Befehl und dem müsse er gehorchen. Es kann auch was Anderes gewesen sein - ich weiß es nicht mehr. Wie es nun so gekommen ist, weiß ich auch nicht. Sie sagen, ich hätte dem Pferd in die Zügel gegriffen. Es ist möglich; fuchswild war ich, das leugne ich nicht, und er wollte weiter, und ich konnte nicht ausweichen, so dicht drängten sie hinter mir. Sollte ich mich etwa überreiten lassen? Und wie man einen Gaul zum Stehen bringt, das hat doch unser Einer im Griff. Das war aber auch das Letzte, was ich sah und was ich weiß. Denn im nächsten Moment hatte ich einen Kolben zwischen den Schulterblättern, daß es mir schwarz vor den Augen wurde, und dann ging Alles drunter und drüber, und es ist nur ein Wunder, daß sie mich nicht todtgetreten haben, als ich so auf dem Pflaster lag. Na, so haben sie mich wenigstens nicht todtgeschossen."

„Sind denn dabei noch andere Menschen ums Leben gekommen?" rief ich.

„Zwei auf dem Platze,“ sagte H. H., einen Schluck nehmend, „und drei sind hernach im Krankenhause gestorben. Aber haben sie denn von der Sache gar nichts gehört? Sie hat ja kolossales Aufsehen gemacht und stand in allen Zeitungen.“

„Ich habe damals keine gelesen," murmelte ich.

„Ja, dann weiß er auch wohl nicht einmal, daß mich die Geschichte anderthalb Jahr Gefängniß gekostet hat?" rief H. H., die Anderen stirnrunzelnd anblickend, als wollte er sie für meine Unwissenheit verantworuich machen.

„Kein Wort!" sagte ich.

„Na, das ist schön!" rief H. H., „da wird man ein Märtyrer und trägt seine Haut zu Markt für das Volk und ruinirt darüber sein Geschäft, muß aus der Stadt, in der Einem seine Väter und Großväter gewohnt haben ein paar Jahrhunderte lang, und in das elende Nest von Berlin, wo man nicht begraben sein, geschweige denn leben mag und doch leben muß als Droschkenfuhrherr, und wie lange wird's dauern, als Droschkenkutscher - da möchte man doch gleich -“

H. H. leerte in großer Aufregung sein Glas. Es war glücklicherweise das letzte in der Terrine gewesen, wie wir Anderen alle denn längst nicht mehr getrunken hatten. Die Frauen waren müde und wollten nach Hause. Ich stand auf und erklärte, daß ich kaum noch die Augen offen halten könne.

„Oho!" rief H. H., der gern noch geblieben und, wie er sagte, „irgend etwas" getrunken hätte, „thut mir leid, wenn ich die Gesellschaft gelangweilt habe!"

„Ich glaube, Niemand, Herr Hopp," entgegnete ich, „und mich gewiß nicht. Im Gegentheil, ich habe Ihnen mit dem größten, wenn auch schmerzlichen Interesse zugehört."

„Hab' ich's nicht gesagt," rief Herr Hopp, zu seinen Frauen gewandt; „schmerzlichen Interesse! Als ob ich den alten I. I. todt geschlagen hätte! und er nicht aus schierer Angst um seine Papierchen in dem eisernen Schranke gestorben wäre! Aber er ist und bleibt ein Judenfreund, der Herr Lothar!"

„Ich bin ein Freund der Familie Israel gewesen,“ sagte ich, „das leugne ich nicht, und Sie, Herr Hopp, der Sie meiue Verhältuisse so genau kennen, werden das gewiß begreiflich finden und daß mir der Tod des alten Mannes nahe geht."

„Gar nicht finde ich das begreiflich," schrie Herr Hopp, „nie habe ich das begreiflich gefunden. Paßt auf, paßt auf: er wird noch 'mal Jettchen heirahen! Ich habe es immer gesagt!"

„Komm' nach Hause, Alter!“ sagte Frau Hopp ärgerlich.

„Na, na!" rief H. H., „er wird doch einen Scherz von einem alten Freunde nicht übelnehmen! und eine machtig gute Partie ist es. Funkelnagelneues Hauus - bin gestern erst vorbei gefahren: die Alte mit Fräulein Jettchen oben, und Beletage Herr Emil mit der jungen Frau. Soll ja auch eine vielfache Millionärin sein."

„Komm, Papa!" sagte Christine.

„Was habt ihr nur Alle gegen mich?" rief H. H.. wüthend.

„willst Du nicht auch noch anfangen, Karl?"

„Ich sage ja kein Wort, Herr,“ erwiderte Karl Brinkmann, und es war wirklich das erste, das er nach der Begrüßung wieder sprach.

„Das ist auch so ein Aristokrat," rief H. H.; „der hätte am liebsten gesehen, wenn der Herr Major - exklüse: Oberstlieutnant und jetzt ist er ja wohl Oberst? Was?"

„Ja," sagte Karl Brinkmann, „das ist er - im Kriegsministerium.“

„Und das freut Dich wohl noch gar?"

„I, Herr!" sagte Karl Brinkmann mürrisch: „lassen Sie mich zufrieden!"

Die Frauen wollten den Zornigen besänftigen, was ihn nur noch mehr reizte.

„Hol' der Teufel alle Aristokraten!“ rief er, „und die Vogtriz an der Spitze! Die taugen Alle nichts. Das laß Dir gesagt sein, Christine!"

Hier fing plötzlich Christine heftig an zu weinen, auch Frau Hopp weinte; die Kinder nebenan, die der Lärm aufgeweckt hatte, begannen zu schreien; ich suchte den Tobenden zu beruhigen, der mir um den Hals fiel und mich unter Schluchzen seinen besten Freund, seinen einzigen Freund nannte, der mit einem alten, vom Unglück auf Schritt und Tritt verfolgten Mann Mitleid habe.

ich benutzte die weiche Stimmung, um den jetzt wieder völlig

Trunkenen mit Karl Brinkmann in die Droschke zu schaffen, die

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