Seite:Die Gartenlaube (1886) 451.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ich hatte allen Muth zu weiteren Fragen, ja, in diesem Momente überhaupt allen Muth verloren. Der Eintritt in die neue Welt war auch gar so kläglich. Dieser Kummermaum der da jetzt, als hätten wir uns sonst auf der Welt nichts zu fragen und zu sagen, von mir abgewandt zur offenstehenden Wagenthür ins Leere starrte; ein alter Freund, der in so fragwürdiger Gestalt so unerwartet vor mich getreten war in seiner Atmosphäre von Fusel und jedenfalls selbstverschuldetem Unglück; das Schreien der auf dem Platze sich drängenden, schiebenden, stoßenden Menschen: das Rasseln der vorrückenden oder abfahrenden Wagen; der Regen dazu, der den ganzen Tag gedroht und jetzt erst langsam, dann heftiger und bald in Strömen fiel - das war die Wirklichkeit, nach der ich mich gesehnt aus der geschminkten Lüge heraus, die mir jetzt wie ein Feenland erscheinen wollte!

„Da hätten wir den Krempel!“ sagte H.H., zu uns in den Wagen steigend, während mein Koffer oben auf das Verdeck herabkrachte - „fort!"

Und fort ging es, nicht eben schnell. H. H. hatte die Mähre erst gestern gekauft, und eine niederträchtige Schindmähre war's mit Gallen und Spat, ein Krippensetzer, der nicht fünf Thaler werth sei und für den er fünfzig gegeben habe. Er müsse betrunken gewesen sein; anders könne er sich so eine dicke Dummheit nicht erklären; aber das komme von dem niederträchtigen Schnaps in dem niederträchtigen Reste, wo man einen richtigen Kognak oder auch nur Korn nicht für eine Million haben könne.

In diesem Tone ging es fort (mit untermischtem Schimpfen auf den Schutzmann, die dämliche Blechkappe, die einem ehrlichen Kerl das Maul verbieten wollte) während Otto, uns gegenüber, kein Wort sprach, und ich nur den einen Wunsch hatte, daß diese triste Fahrt endlich einmal ein Ende nehme, auf der mir der beständig gegen die Scheiben klatschende Regen nur unsichere Blicke auf die Umgebung erlaubte. Stattliche Häuser anfangs und Prachtbauten, unter denen ich nach gesehenen Abbildungen das Brandenburger Thor zu erkennen glaubte; weiter durch Straßen; über mächtige Plätze, die mit Lichtern übersäet waren, deren Strahlen sich in den Regentropfen auf den Scheiben brachen; über Brücken; wieder über Plätze; durch engere Straßen, kümmerliche Gassen, weiter, weiter nach Moabit, wie ich endlich aus dem schweigsamen Otto nach mancher wiederholten Frage herausbekam. Es sei keine gute Geschäftslage für einen Tischler; aber was wolle man machen? Man wohne da noch immer ein bischen billiger, er wenigstens; es sei aber auch danach.

Otto schwieg; ich schwieg, und H. H., der zuletzt sehr undeutlich gesprochen hatte, schwieg ebenfalls. Noch immer rumpelte das Gefährt auf dem jetzt sehr holprigen Pflaster in monotoner Langsamkeit weiter. Dann hörte auch das Pflaster auf; es ging Schritt vor Schritt in einem sandigen Wege, der, nach den hier und da aufgeschichteten Balken und Brettern zu schließen, über einen Zimmerplatz zu führen schien; endlich hielten wir. H. H. erwachte und schrie. „Halloh!" Otto reichte mir die Hand und sagte mit muthloser Stimme: „Willkommen“ schlug dann aber sofort den Rockkragen in die Höhe und lief durch den Regen in das Haus, ohne sich nach mir und H. H. umzusehen, der sich inzwischen mit meinem Koffer beladen hatte. Ich wollte es nicht leiden; es gab einen kleinen Streit, während dessen in der Hausthür ein paar Kinder sichtbar wurden, die aber bei meiner Annäherung sofort wieder verschwanden. Otto stand mit einer Lampe auf dem Flure und leuchtete uns voran in ein Zimmer linker Hand, wo er die Lampe auf den runden Tisch vor dem Sofa setzte und sagte, daß seine Frau gleich kommen werde. Dann war er wieder verschwunden, auch Herr Hopp hatte draußen noch mit dem Kutscher zu sprechen; ich blieb allein und hatte Zeit, mich in dem Zimmer umzusehen.

Ein ziemlich weites, niedriges Gemach, in welchem ein muffiger Geruch herrschte, als ob das Haus sehr feucht sei oder in der unmittelbaren Nähe eines Sumpfes liege. Dennoch konnten die beiden Fenster erst während des Regens geschlossen sein, denn vor jedem derselben stand auf den wurmstichigen Dielen eine große Lache, von welchen nasse Spuren nach allen Richtungen liefen, augenscheinlich von Kinderfüßen. Auch sonst war es wüst und unwirthlich in dem großen Raume, der fast keine Möbel enthielt und es doch fertig gebracht hatte, unordeutlich auszusehen. Auf dem Tische vor dem Sofa mit dem kattunenen, stellenweise zerfetzten Ueberzuge, auf den paar Rohrstühlen, auf der Kommode, an dem Boden selbst lag allerhand umher: zerknitterte Zeitungen, Anzugsstücke, ein zerrissenes Hemdchen, an dem eben noch genäht schien; eine kleine Puppe ohne Kopf, ein Spielwägelchen mit zwei Rädern und einem Holzpferde, dem sämmtliche Beine fehlten; gebrauchtes und ungebrauchtes Geschirr, angebissenes Butterbrot, daneben ein mit einer durchlöcherten Brotscheibe bedecktes Glas, inwendig schwarz von ertrunkenen Fliegen. Ich kam eben aus Kreisen, in denen man es mit den Geboten der Ordnung nichts weniger als streng nahm; aber da hatte selbst die Unordnung einen heiteren Anstrich gehabt. Hier sah sie trostlos aus und drückte schwer auf mein so schon gepreßtes Gemüth. Wie sollte dies werden?

Otto kam zurück: seine Frau bitte noch für einige Minuten um Entschuldigung, sie müsse erst die Kleinsten zu Bett bringen; ob er mir unterdessen meine Stube zeigen dürfe?

Ich war es mehr als zufrieden; überdies hatte ich mich noch von dem Staube der langen Fahrt zu reinigen. Otto führte mich über den Flur eine schmale steile Treppe hinauf über einen Boden, der, wie ich sah, ihm als Werkstatt diente, in ein Giebelzimmerchen mit nur oben etwa drei Fuß breit horizontaler, an den Seiten stark abgeschrägter Decke und einem kleinen viereckigen Fenster. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Bette, einem Stuhle und einem Tischchen, das zugleich als Waschtisch figurirte.

„Ein Schelm giebt mehr, als er hat," sagte Otto, sich verlegen in dem Zimmerchen umsehend.

„Und ich will ein Schelm sein, wenn ich mehr erwartet habe," sagte ich, indem ich zugleich das Fensterchen aufstieß, frische Lust hinein zu lassen, an der es hier wie unten fehlte.

„Es ist von dem Leim und dem feuchten Holz," sagte Otto; „ich dachte mir gleich, Du würdest das nicht aushalten."

„Und ich sage Dir," erwiderte ich, „mir ist auf der Welt kein Geruch lieber. Das ist ja gerade wie beim Vater. Ich das nicht aushalten! Und sieh doch! Das ist ja gar Wasser - Schiffe - was heißt denn das?"

Ich stand an dem offenen Fenster. Dicht vor mir, nur durch einen schmalen Uferstreifen getrennt, dämmerte es durch den Regen, der jetzt nur noch rieselte: ein mächtiges Flußbild, in welchem ich viel Einzelheiten just nicht mehr erkennen konnte, trotzdem die Regenluft von einem unsichtbaren Mond ein wenig durchhellt war, hier und da auf den Ufern hüben und drüben die Laternen brannten und von den Schiffen oder aus Nachbarhäusern ein matteres Licht durch den Dunst herüberschimmerte.

„Das ist die Spree,“ sagte Otto. „Ich freue mich, wenn es Dir gefällt. Meine Frau meint, es sei sehr ungesund, hier zu wohnen; aber es ist billig - das ist die Hauptsache. Na, Du kommst wohl hernach herunter. Das Licht lasse ich oben.“

Als ob ich mich ohne das Licht hätte wieder herunter finden können!

Kopfschüttelnd ging ich an das Reinigungswerk, bei dem ich mich möglichst beeilte, obschon es mich, der Himmel weiß es, gar nicht drängte, wieder nach unten zu kommen. Dieselbe Stunde, in der wir uns gestern Abend nach der Vorstellung zu einem Abschiedsschmaus zusammengefunden hatten! Es fehlte nicht viel, so wären mir bei der Erinnerung die Augen naß geworden. Indessen: die Reue kam zu spät. Und ich bereute ja nichts. Es hätte da unten noch viel armseliger aussehen können, wenn es nur ordentlicher gewesen wäre. Ich erinnerte mich, daß Goethe einmal gesagt hatte, er mochte noch eher ein Verbrechen begehen, als Unordnung dulden. Aber gab es nicht armselige Verhältnisse, und waren Bruder Otto's etwa solche, welche, weil sie wider die Ordnung sind, auch wiederum die Ordnung nicht dulden? Das war eine von den vielen Fragen, auf welche mir die Antwort zu holen ich ja eben hierhergekommen war. Also vorwärts!

Und da öffnete ich denn unten wieder die Thür, um alsbald von zwei kräftigen Frauenarmen umfangen und von einem kräftigen Frauenmunde herzlich geküßt zu werden. Die gute Frau Hopp! und ich hatte auch nicht mit einem Gedanken daran gedacht, daß, wenn H. H. in Berlin war, seine weitaus bessere Hälfte schwerlich fern sein würde! So war denn meine Ueberraschung, die alte Freundin hier zu finden, ganz aufrichtig, und meine Freude wahrlich nicht minder. Und wahrhaftig, da tritt hinter dem breiten Rücken des Vaters, der nun in ein schallendes Gelächter ausbricht, Christine hervor und reicht mir beide Hände, trotzdem

der Vater ruft. „Ei, so mache es doch wie die Mutter, dummes

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_451.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2020)