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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Ein Sängerfest im „Deutsch-Athen“ Nordamerikas.

Ansicht von Milwaukee.
Originalzeichnung von Richard Püttner.

Deutsche Sängerfeste bilden in Nordamerika keine Seltenheit. Unsere Brüder unter dem Sternenbanner pflegen deutsche Weisen mit demselben Eifer, wie dies innerhalb der Reichsgrenzen der Fall ist. Zahllose deutsche Sängervereine blühen in den Vereinigten Staaten und besitzen in dem „Nordamerikanischen Sängerbund“, der im Jahre 1857 gegründet wurde und heute die größte Vereinigung dieser Art in der Union bildet, einen wichtigen Mittelpunkt. Und dennoch sehen sangesfrohe Scharen jenseit des Oceans mit spannender Erwartung der Zeit vom 21. bis 25. Juli entgegen, wo in dem lieblichen Mllwaukee das 24. Sängerfest des genannten Bundes abgehalten werden soll.

Schon der Umstand, daß für dieses Jahr die deutscheste Stadt Amerikas zum Festort gewählt wurde, würde diese Erwartung rechtfertigen. Sie wird aber noch gesteigert durch den großen Aufwand für die Vorbereitungen zum Feste, wie solcher bei allen bisherigen Feiern dieser Art in der neuen Welt noch nicht erreicht wurde – verfügt doch das Festkomité allein über einen Garantiefond von dreiviertel Millionen Mark. Ueber 90 deutsch-amerikanische Vereine werden in Milwaukee zusammentreffen, und auch Gäste aus Deutschland werden nicht fehlen. So wird der königliche Musikdirektor Hermann Mohr von Berlin auf dem Fest erscheinen, um seine 1865 auf dem ersten Deutschen Sängerfest zu Dresden preisgekrönte Hymne „Jauchzend erhebt sich die Schöpfung" persönlich zu dirigiren; auch ist es sehr wahrscheinlich, daß Herr Professur E. Brambach von Bonn, der den von dem Milwaukeer Bürger John Plankington ausgesetzten Preis von 1000 Dollar für die Festkomposition „Columbus" erhielt, die Aufführung seines Werkes leiten wird.

Die Leitung des Festes, an deren Spitze die Herren Heinrich M. Mendel, Bundespräsident, und E. Catenhusen, Musikdirigent, stehen, liegt in den Händen umsichtiger Männer. Herr Mendel ist ein Breslauer Kind. Er wanderte 1854 nach den Vereinigten Staaten aus, kam nach Milwaukee und wurde 1859 Mitglied des Musikvereins, in welchem er wiederholt zu den verschiedensten Ehren- und Vertrauensposten gewählt wurde.

Herr E. Catenhusen wurde zu Ratzeburg im Großherzogthum Lauenburg im Jahre 1841 geboren, besuchte daselbst das Gymnasium und dann die Universitäten Göttingen und Leipzig, wo er Philosophie und Geschichte studirte. Er ist ein Schüler Ignaz Lachner’s. Jn den Städten Riga, Königsberg, Köln, Chemnitz, Hamburg und Berlin (Friedrich Wilhelmstädtisches Theater) wirkte er als Operndirigent. Während seiner Hamburger Thätigkeit komponirte er die beiden Görner’schen Volksstücke: „Der Rattenfänger von Hameln“ und „Frau Holle“. Das erstere Stück wurde zweihundertdreißigmal in Berlin aufgeführt. Dann folgte die Komposition der Musik zu dem Beaumarchais’schen Stück „Die Hochzeit des Figaro“, das Dingelstedt neu bearbeitet hatte und für das Wiener Hofburgtheater ankaufte. Von Berlin ging Catenhusen nach New-York, um die Stelle des Kapellmeisters ain Thalia-Theater zu übernehmen. Nach sechs Monaten aber vertauschte er diesen Platz schon mit einer Thätigkeit an der englischen Bühne. In dieser Stellung als Kapellmeister und Regisseur des Kasino brach er die Herrschaft der Londoner Oper und führte die deutsche zum Sieg. Im Sommer 1884 wurde er zum Dirigenten des Milwaukeer Musikvereins gewählt und in dieser Stellung auch mit der musikalischen Leitung des großen Bundessängerfestes betraut. –

Noch in einer Beziehung ist das bevorstehende Fest bemerkenswerth. Zum ersten Male wird sich an demselben auch ein englischer Verein betheiligen. Nicht mit Unrecht darf man diese Thatsache als eine Errungenschaft der deutschen Musik betrachten. Denn wirft man einen Blick rückwärts und erinnert sich, mit welcher Verachtung vor ungefähr 40 Jahren das Stockamerikanerthum auf die deutschen Sänger herabsah, ja wie selbst vor 15 Jahren eine bedeutende Zeitung in Cincinnati über das Programm des berühmten Theodor Thomas’schen Orchesters sich dahin aussprach: sie – die Amerikaner – hätten noch nicht genug Sauerkraut und Limburger Käse gegessen, um die Programme verdauen zu können, so kann man sich jetzt nicht genug wundern, wie es gekommen, daß heute dieselben Amerikaner Beethoven, Mozart, Gluck, Haydn, Schubert, Bach, Wagner etc. als die vorzüglichsten Heroen der Musik anerkennen und förmliche Pilgerfahrten zu den Sängerfesten der Deutschen machen. Es ist dies von vielen ein Beispiel, daß der deutsche Geist sich immer mehr Bahn bricht in Amerika.

Nach dem verdienstvollen deutsch-amerikanischen Geschichtsforscher G. A. Rattermann in Cincinnati ward die älteste Musik, die in Amerika gepflegt wurde, von spanischen Geistlichen und Mönchen nach der neuen Welt verpflanzt. Sie bestand ausschließlich in dem zum Gottesdienste gehörigen gregorianischen Gesang. Mit den Puritanern, welche im Jahre 1620 mit der „Mayflower" auf Plymouth Rock landeten, ward das erste Kirchenlied eingeführt. Die Melodien waren höchst einfach und dem von Morot und Beza herausgegebenen Psalmbuch entlehnt, zu welchem der Elsasser Wilhelm Frank passende Choralmelodien schrieb und wahrscheinlich auch komponirt hat. Bis zum Jahre 1815, als in Boston die „Haydn and Händel Society“ gegründet wurde, diente der Gesang ausschließlich dem Gottesdienste. Durch diese Gesellschaft trat die Musik, das heißt der Gesang, aus der Kirche in den Koncertsaal über, freilich noch die religiöse Richtung im Auditorium, dem sich zunächst die Messen der größeren Komponisten anreihten, verfolgend.

Merkwürdig ist es jedenfalls, daß die Einführung des ersten mehrstimmigen Gesanges in Amerika, soweit man fühlbaren Grund in dieser Beziehung hat, von einem Deutschen ausging. Dieser Pionier des vierstimmigen Gesanges und auch wohl der Instrumentalmusik in Amerika ist der zu Rechegg, jetzt Recha, bei Kaltern an der Etsch in Tirol geborene deutsche Jesuitenmissionar Pater Antonius Sepp, welcher am Rio Plata in Paraguay bereits im Jahre 1692 einen vierstimmigen Chor, Sopran, Alt, Tenor und Baß, sowie ein dazu gehöriges Orchester aus den Indianern eingeübt hatte, welche lateinische und deutsche Gesänge – Messen, Vespern, Litaneien etc. – mit Musik und Orgelbegleitung sangen. Pater Sepp selber war Musiker und spielte alle damals bekannten Instrumente mit ziemlicher Fertigkeit. Er hatte in Augsburg Theorie – Generalbaß und Harmonielehre – studirt und komponirte selbst viele der Tonwerke, welche er mit seinen Indianern aufführte. Er hatte somit den ersten deutschen Gesang- und Musikverein ins Leben gerufen.

Die Feststadt Milwaukee am Michigansee, obgleich noch sehr jung – sie feierte im vergangenen Jahre das fünfzigste Jahresfest ihrer Gründung –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_449.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2023)