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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Der Graf hob mit einer jähen Bewegung den Kopf.

„Auf wen habt Ihr losgeschlagen?“

„Ja so – das war eine Dummheit!“ brummte Wolfram verlegen in seinen Bart.

„Ist etwa von dem Knaben die Rede, der Dir übergeben wurde?“

Der Förster senkte das Auge vor dem zornigen Blick, der ihn traf, und vertheidigte sich etwas kleinlaut.

„Es hat ihm nichts geschadet, und es hat auch bald aufgehört, denn der Herr Pfarrer von Sankt Michael verbot es uns, und da ließen wir es bleiben. Uebrigens hat der Bube die Schläge reichlich verdient.“

Steinrück erwiderte nichts; er hatte es freilich gewußt, daß der Jüngling in rohe und gewaltsame Hände kam, aber der Einblick, den er jetzt erhielt, berührte ihn doch peinlich, und ziemlich ungnädig fragte er: „Hast Du Deinen Pflegesohn mitgebracht?“

„Jawohl, Herr Graf, wie es befohlen war.“

„So laß ihn eintreten.“

Wolfram ging, um den im Vorzimmer harrenden Michael herbeizurufeu, während der Blick des Grafen sich mit unruhiger Spannung auf die Thür heftete, durch die in der nächsten Minute sein Enkel treten sollte, das Kind der verstoßenen, der erbarmungslos gerichteten und doch einst so geliebten Tochter. Vielleicht war der Knabe das Ebenbild seiner Mutter, jedenfalls trug er einige Züge von ihr, und Steinrück wußte selbst nicht, ob er diese Erinnerung fürchtete oder – ersehnte.

Da öffnete sich die Thür, und an der Seite seines Pflegevaters trat Michael ein. Auch er hatte mit Rücksicht auf diese Vorstellung seinem Aeußeren größere Sorgfalt zuwenden müssen, aber bei ihm half das wenig. Das Sonntagsgewand kleidete ihn nicht besser und war überdies, obgleich neu, doch halb bäuerisch in Schnitt und Aussehen. Die dichten, wirren Locken ließen sich nun einmal nicht glätten, und die Ordnung, die er heute Morgen mühsam hineingebracht hatte, war auf dem Wege hierher längst wieder verloren gegangen, sie legten sich eben so wild wie sonst um die Stirn. Dazu prägte sich die Scheu und Befangenheit, die er in der fremden Umgebung empfand, deutlich auf seinem Gesicht aus, das ausdrucksloser als je erschien, und die nachlässige Haltung, die schwerfälligen Bewegungen machten seine Erscheinung nur noch abstoßender.

Der Graf warf einen raschen, scharfen Blick auf den Eintretenden, nur einen einzigen, dann preßte er mit dem Ausdruck herbster Enttäuschung die Lippen zusammen. Das also – das war Louisen’s Sohn!

„Das ist der Michel, Herr Graf,“ sagte Wolfram, indem er Michael in nicht gerade sanfter Weise vorwärts schob. „Mach’ Deine Reverenz und bedank’ Dich bei dem gnädigen Herrn, der Dich blutarme Waise aufgenommen und für Dich gesorgt hat. Es ist ja das erste Mal, daß Du Deinen Wohlthäter zu Gesicht bekommst.“

Aber Michael machte keine Reverenz und sprach auch keinen Dank aus. Seine Augen hingen wie gebannt an dem Grafen, der sich freilich in der glänzenden Uniform imponirend genug ausnahm, er schien über dem Anschauen alles Andere zu vergessen.

„Nun, kannst Du nicht reden?“ fragte Wolfram ungeduldig. „Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, Herr Graf, es ist nur Dummheit, nichts weiter. Er thut schon daheim kaum den Mund auf, und wenn er viel Neues und Fremdes sieht, wie heut, dann ist es vollends zu Ende mit seinem bischen Verstand.“

Es war ein Ausdruck offenbaren Widerwillens, mit dem Steinrück sich jetzt endlich an den Jüngling wandte, und seine Stimme klang kalt und herrisch, als er fragte:

„Du heißest Michael?“

„Ja,“ versetzte dieser, wie mechanisch, er schien das Auge noch immer nicht losreißen zu können von der hohen Gestalt und dem gebietenden Antlitz, das so herb und verächtlich auf ihn niederblickte. Steinrück sah nicht die grenzenlose Bewunderung, die in diesen Augen lag, er sah nur den träumerischen Ausdruck darin, nur ein dumpfes, neugieriges Anstarren, das ihn verletzte.

„Wie alt bist Du?“ fuhr er, in dem gleichen Tone wie vorhin, fort.

„Achtzehn Jahr.“

„Und was hast Du bisher gelernt und getrieben?“

Die Frage schien Michael in Verlegenheit zu setzen, er schwieg und sah den Förster an, der denn auch für ihn das Wort nahm.

„Getrieben hat er eigentlich nichts, Herr Graf, obgleich er den ganzen Tag im Walde herumläuft, und gelernt wird er wohl auch nicht viel haben. Ich hab’ keine Zeit, mich darum zu kümmern, zu Anfang thaten wir ihn in die Dorfschule, und später hat sich der Herr Pfarrer seiner angenommen und ihn unterrichtet. Viel wird es aber auch nicht geworden sein, trotz aller Mühe, der Michel begreift nun einmal nichts.“

„Aber er muß sich doch für irgend eine Thätigkeit entscheiden. Wozu taugt er denn und was will er werden?“

„Gar nichts und er taugt auch zu nichts!“ sagte der Förster lakonisch.

„Das ist ja ein glänzendes Zeugniß, das Dir ausgestellt wird!“ sagte der Graf verächtlich. „Also den ganzen Tag im Walde herumlaufen, das ist Deine Arbeit, das kostet allerdings keine Anstrengung, und viel zu lernen braucht man auch nicht dabei, aber es ist eine Schande, daß ein junger, kräftiger Bursche wie Du sich so etwas sagen lassen muß.“

Michael schaute betroffen auf bei diesen herben Worten, und in seinem Antlitz begann langsam eine dunkle Röthe aufzusteigen, der Förster aber stimmte bei:

„Ja, das meine ich auch, aber mit dem Michel ist ja nichts anzufangen. Sehen Sie ihn sich nur an, Herr Graf, der giebt sein Lebtag keinen richtigen Weidmann ab.“

Es schien dem Grafen Ueberwindung zu kosten, sich überhaupt noch mit einer Sache abzugeben, die ihm so zuwider war, aber er bezwang sich und sagte hart und befehlend:

„Tritt näher!“

Michael rührte sich nicht, er stand da, als habe er den Befehl gar nicht gehört.

„Hast Du so wenig Gehorsam gelernt?“ fragte Steinrück drohend. „Tritt näher, sage ich.“

Michael blieb noch immer regungslos, bis der Förster sich veranlaßt fand, seiner vermeintlichen Dummheit zu Hilfe zu kommen, er faßte ihn derb an der Schulter, traf aber auf entschiedenen Widerstand seines Pflegesohnes, der sich mit einer heftigen Bewegung losriß. Es lag nur Trotz in diesem jähen Zurückweichen, aber es sah wie Flucht aus und so faßte es auch der Graf auf.

„Also auch noch feig!“ murmelte er. „Wahrhaftig, es ist genug!“

Er zog die Klingel und rief dem eintretenden Diener zu: „Der Wagen soll vorfahren,“ wandte sich dann aber wieder an den Förster.

„Mit Dir habe ich noch ein paar Worte zu reden, folge mir.“

Er öffnete die Thür eines kleinen Nebengemaches und schritt voran. Wolfram versuchte, indem er ihm folgte, das Benehmen seines Pflegesohnes zu entschuldigen.

„Er hat sich vor Ihnen gefürchtet, Herr Graf, der Bub’ hat nun einmal keine Kourage im Leibe!“

„Das sehe ich!“ sagte Steinrück mit grenzenloser Verachtung; wenn er Alles verzieh, Feigheit verzieh er nicht, das war in seinen Augen ein unauslöschlicher Makel.

„Laß gut sein, Wolfram, ich weiß, Du kannst nichts dafür, aber Du wirst den Burschen wohl einstweilen noch behalten müssen, denn der taugt höchstens für Deine Bergförsterei. Da mag er meinetwegen sein Leben verdämmern und verdummen, zu etwas Anderem auf der Welt taugt er nicht!“

Er ging mit dem Förster, ohne sich weiter um Michael zu kümmern, der noch regungslos an demselben Platze stand. Noch lag die dunkle Röthe auf seinem Gesicht, aber es war jetzt nicht mehr leer und ausdruckslos. Finster, mit zusammengebissenen Zähnen schaute er dem Manne nach, der so erbarmungslos den Stab über ihn und seine Zukunft brach. Er hatte ja oft genug Aehnliches gehört, aus dem Munde des Försters, ohne daß es ihn aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln vermochte, aber es klang so anders von jenen stolzen Lippen, und der verächtliche Blick jener Augen bohrte sich wie ein schmerzender Stachel in seine Seele. Zum ersten Male empfand er die Behandlung, an die er von Kindheit an gewöhnt war, als ein brennendes Weh, als einen Schimpf, der zu Boden drückte.

Der Diener war gegangen, um den erhaltenen Befehl auszuführen und Michael befand sich allein in dem Gemache. Durch das Erkerfenster strömte der Sonnenschein herein und lag hell auf dem Schreibtische, wo es gleißend aufblinkte, die Diamanten des

Ordenssternes sprühten und glänzten in allen Regenbogenfarben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_442.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2023)