Verschiedene: Die Gartenlaube (1886) | |
|
No. 26. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Der Graf stand am Schreibtische und nahm aus einem der
Fächer einen funkelnden Gegenstand, den Stern eines hohen
Ordens, der reich mit Brillanten besetzt war. Im Begriff, ihn
zu befestigen, bemerkte er, daß das Band sich gelöst hatte, und
da Wolfram in diesem Augenblicke bereits eintrat, so legte er das
offene Etui auf den Schreibtisch nieder.
Der Förster war heute in der vollen Gala, in der er sich zeigte, eine ganz stattliche Erscheinung. Haar und Bart hatten sich zur Ordnung bequemen müssen, und der Jagdkleidung war die gleiche Sorgfalt zugewendet. Auch schien er seinem ehemaligen Herrn gegenüber nicht ganz die Formen verlernt zu haben, denn er blieb mit ehrerbietigem Gruß an der Thür stehen, bis der Graf ihm einen Wink gab, näher zu treten.
„Da bist Du ja, Wolfram,“ sagte er freundlich, sich noch der alten vertraulichen Anrede bedienend. „Ich habe Dich lange nicht gesehen, wie ist es Dir ergangen?“
„Mir ist’s ganz leidlich gegangen, Herr Graf“, versetzte der Förster, der in strammer Haltung dastand. „Ich hab’ ja mein Auskommen, und der hochselige Herr Graf war auch zufrieden mit mir. Ich komm’ freilich das ganze Jahr nicht heraus aus meinen Wäldern, aber daran ist unsereins gewöhnt, man muß sich halt finden in das Alleinsein.“
„Du warst ja verheirathet, ist Deine Frau nicht mehr am Leben?“
„Nein, sie starb vor fünf Jahren, Gott hab’ sie selig, und Kinder haben wir nie gehabt. Man hat mir wohl zugeredet, wieder zu freien, aber ich mochte nicht. Wer die Geschicht’ einmal probirt hat, der hat genug davon.“
„Also war Deine Ehe nicht glücklich?" fragte ihn Steinrück, über dessen Zuge ein flüchtiges Lächeln glitt, bei dieser naiven Behauptung.
„Wie man’s nimmt!“ sagte der Förster gleichmüthig. „Wir sind eigentlich ganz gut mit einander ausgekommen, gezankt haben wir uns freilich alle Tage, aber das gehört dazu, und wenn uns dann der Michel dazwischen kam, dann schlugen wir Beide auf den los, und dabei vertrugen wir uns wieder.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_441.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2022)