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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

nämlich bloß aufzuzählen, was Sie haben, und ich habe die sämiiltlichen Requisiten zu dem betreffenden guten Schauspieler beisammen.“

„Na, dann schießen Sie meinetwegen los! Was habe ich denn?“

Zuerst, was Sie sich ja selbst zusprechen, Ausdauer. Und welche Ausdauer! Sie haben mir selbst gesagt, Ihre Schulkenntmisse seien über Lesen, Schreiben und Rechnen nicht weit hinausgegangen -“

„Wie sollten sie,“ unterbrach mich Lamarque. „Ich ging in eine Bürgerschule in einem kleinen polnischen Nest. Mein Vater hieß übrigens eigentlich Markus - Jude selbstverständlich - war Barbier. Er brauchte mich im Geschäft von meinem zehnten Jahre an. Als ich sechzehn war, lief ich ihm weg -“

„Um Schauspieler zu werden - ganz recht. Weil Sie den unwiderstehlichen Drang hatten - das ist das Zweite zu der Ausdauer - und doch eigentlich dasselbe mit jener. Denn wohnte Ihnen nicht früher und später dieser unwiderstehliche Drang inne, so hätten Sie eben nicht die Ausdauer gehabt, ihre schwache, dünne Stimme - pfeifende, sagten Sie - so zu schulen, daß Sie sich jetzt eines starken, wohlklingenden, vor allem unermüdlichen Organs erfreuen und einer Pronnunciation, der man ihre halb polnische Abkunft nicht im geringsten mehr anmerkt. Dasselbe Kunststück haben Sie mutatis mutandis -“

„Was heißt das?"

„In ähnlicher, wenn auch in anderer Weise mit ihrem Körper fertig gebracht, der, nach ihren eigenen Worten, anfangs gebrechlich oder doch ungelenk war, und jetzt die Kraft und Elasticität selbst ist, sodaß Sie mit ihm machen können, was Sie wollen. Nun kommt das Dritte, das freilich die Hauptsache ist: Ihr für mich und alle Kunstverständigen, die Sie gesehen haben, staunenswerthes Talent, ihr theatralisches Genie: die reine, ganz spontane und momentane schauspielerische Intuition -“

„Was ist das nun wieder?"

„Eine Anschauung von dem darzustellenden Charakter, ohne daß Sie über denselben: sein Wesen, seinen Gehalt, seine psychologische oder gar historische Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit lange nachzudenken brauchen."

„Oho, Sie meinen, ich denke gar nicht!"

„Keineswegs, nur daß ihr Denken über einen Charakter mit dem inneren Nachschaffen desselben Hand in Hand geht. Und das innere Nachschaffen auch wieder sofort in das äußere Nachbilden, Herausformen, die eigentliche schauspielerische Darstellung mit einem Worte, übergeht, so daß im Grunde die Rolle, wenn Sie beim letzten Worte angekommen sind, auch eigentlich schon fertig ist."

„Das ist wahr," sagte Lamarque. „ich muß mich manchmal über mich selbst wundern, wie ich dazu komme, und wie fix das geht. Aber ich vergreife mich auch manchmal."

„Gewiß, wenn auch sehr selten. Und selbst dann kann man Ihnen nicht gram sein, weil das etwa Unrichtige, sagen wir: in der Anlage Verfehlte, das Sie bringen, tausendmal interessanter und werthvoller ist, als das schulmäßig Richtige anderer Leute. Sehen Sie, Lamarque, das sind Sie. Brauche ich Ihnen nun noch zu sagen, was und wie ich bin?"

Lamarque antwortete nicht. Wir gingen eine Weile schweigend neben einander hin; plötzlich rief er:

„Sagen Sie mir nur das Eine: weßhalb sind Sie denn Schauspieler geworden?"

Ich mußte lächeln; in dieser Frage lag das ganze Urtheil des Mannes über mich und die Verfehltheit meines Berufes. Aber er sagte mir ja nichts, was ich nicht längst gewußt hatte, und mit einer Heiterkeit, die doch nicht ganz ohne Wehmuth war, erwiderte ich:

„Weil man mir so lange eingeredet hatte, ich habe Talent zum Schauspieler, bis ich es am Eade selbst beinahe glaubte. Beinahe, nicht ganz; und wären meine Verhältnisse nicht gar so mißlich gewesen, ich hätte mich doch wohl noch im letzten Augenblicke besonnen. Aber meine Situation war zu langem Besinnen nicht angethan. Sehen Sie: es sind nun eben vier iahre her, da war ich einmal nach Haniburg verschlagen. Ich hatte nach Amerika gewollt; daraus wurde nichts. Nach einer schlimmen Nacht, in welcher der leibhaftige Teufel mit mir sein Spiel zu treiben schien - Sie brauchen sich dabei nichts Arges zu denken - ich kam leidlich unschuldig, wie ich hineingeraten, aus seiner Küche heraus war ich einen ganzen Tag freudlos, ziellos und auch bis auf ein Weniges mittellos in den fremden Gassen umhergeirrt mit diversen Selbstmordsanwandlungen, denen ich aber glücklich widerstand. Der Abend fand mich in Sankt Pauli Sie kennen Hamburg nicht? - nun, das ist eine Vorstadt, in welcher sich so ziemlich auf einem Platz Alles zusammendrängt, was im Genre der sogenannten Volksbelustigungen von den Cafés-chantants bis zu den Karrusels und den Buden mit der größten Dame der Welt, oder dem Schafe mit zwei Köpfen und so weiter geleistet werden kann. Ich hatte da so wenig zu suchen, wie überall sonst in der großen Stadt, aber ich war einmal da; und das bunte Treiben zerstreute mich doch ein wenig und lenkte mich vor Allem von jenen tristen Hamletsphantasien ab, die jetzt, wo die Sonne zur Rüste ging, in Erinnerung der furchtbaren verlebten Nacht, sich wieder stärker zu regen begannen. So trieb ich mich da herum, innerlich einem verlaufenen Hunde ähnlicher, als irgend einem anderen lebenden Wesen, wenn ich auch hier und da stehen blieb und mir irgend eine Wunderlichkeit oder Abenteuerlichkeit dieser tollen Welt scheinbar aufmerksam betrachtete; oder ebenso an den Schaubuden eine und die andere der Assichen las, die denn freilich manchmal ebenfalls wunderlich und abenteuerlich genug lauteten. Zum Beispiel folgende, die ich aus guten Gründen im Gedächtnisse behalten habe, und die Sie sich mit den nöthigen Absätzen untereinandergedruckt denken müssen: ,Felicia-Theater. Dreizehntes Gastspiel der kleinen Mimili - Der Liebling der Welt. - Das geehrte Publikum wird gebeten, während des Gastspiels der kleinen Mimili nicht zu rauchen. - Viertes Auftreten des englischen Original- Bauchredners Mister S. Vor mit seinen acht Automaten in sechs verschiedenen Sprachen. Zum ersten Male: Badekuren. Lustspiel in einem Akte von G. zu Putlitz.

Nicht wahr, die Zusammenstellung ist originell? Wenigstens interessirte sie mich, vielleicht nur deßhalb, weil mein Lehrer mir die Rolle des Reinhold eingeübt und mich auf dem kleinen Probirtheater, aus welchem ich meine praktischen Studien machte, ein paarmal hatte spielen lassen. Wie ich noch da so stehe und den Zettel lese - es war an der Hinterseite des Kunsttempels neben der Ausgangsthür - wird diese Thür geöffnet; ein plumper kurzer Mann tritt auf die Schwelle und blickt, die Hände auf dem Rücken, vor sich hin mit einem verdrießlich-nachdenklichen Gesicht. Plötzlich wendet er sich zu mir, der ich noch immer bald die Assiche ansehe, bald den Mann, ohne mir bei dem Einen mehr zu denken, als bei dem Andern, und fragt mich in grobem Ton: ,Sind sie Schauspieler?' Ob ihn mein unbärtig jugendliches Aussehen zu der Frage bewogen hat oder nur der Umstand, daß ich so eifrig die Assiche zu lesen schien - ich weiß es nicht. Und auch nicht, warum ich mit ja aatwortete. Ich bin überzeugt, es ist die reine Zerstreutheit gewesen, und ich hatte, der Wahrheit gemäß, Nein sagen wollen. - „Können Sie den jungen Kerl da in dem Stück da spielen?“ fragte er weiter, mit der rothen Hand auf den Zettel schlagend. Diesmal konnte ich mit einiger Ueberzeugung Ja sagen. - ,Dann sind Sie mein Mann!' ruft der Dicke, jetzt mit strahlendem Gesicht. ,Kommen Sie herein, wie Sie gehen und stehen. Sie finden Alles! Rönner ist gerade von ihrer Statur; es wird Ihnen passen, als wär' es ihnen auf den Leib gearbeitet.'

Ich mochte dazu wohl ein recht verdutztes Gesicht gemacht und der Mann das für eine Abneigung, auf den Handel einzugehen, gehalten haben. Er ließ sich deßhalb zu einer Erklärung herbei. Herr Rönner habe sich vor zehn Miunten krank melden lassen - werde wohl mit der Krankheit nicht weit her sein - sei überhaupt ein unzuverlässiger Patron, der Musjö Rönner. Aber herbeizuschaffen sei er nicht; die Möglichkeit, ihn zu ersetzen oder ein anderes Stück zu geben, ebenfalls ausgeschlossen, und die kleine Mimili und Mister Vox hielten für den Abend nicht vor. Ich solle meine Gastrolle nicht umsonst geben, und wenn ich dem Publikum gefalle und ich meine Ansprüche nicht zu hoch spanne, so sei ich sein Mann nicht bloß für heute Abend; und der Teufel möge den Bummler, den Lumpen nämlich den Herrn Rönner - holen!

Nun, ich hatte wahrlich nicht die Absicht, einem anderen

armen Unglücksraben sein Stück Brot wegzunehmen, aber so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_435.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2021)