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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


sie, wenn der Wind an die Fenster weht, zusammenschrecken, in der Meinung: es könnte ein Ferienbesuch sein. Der eine Tag genügt, sie wieder zu erfrischen, und mit wehmüthigem Humor blicken sie noch einmal zurück nach dem Casamicciola ihrer Ferienträume. Der Aufenthalt in Berlin hat ihnen mehr gekostet, als eine Reise nach dem Pyramidenlande.

Künftighin aber, das erheben sie zum festen Entschluß, wollen sie mit dem Glockenschlage des Urlaubsbeginnes das Weichbild hinter sich lassen – namentlich in solchen Jahren, wo in Berlin etwas Besonderes zu sehen – und das Jahr soll noch geboren werden im Schoße der Zeiten, in welchem dies nicht der Fall ist.




Der kleine Schuh.
Skizze aus dem italienischen Badeleben von Isolde Kurz.
(Schluß.)


[„]Der Kommandant des vermißten Küstenfahrers ist aus dieser Gegend gebürtig,“ fuhr Giacomino fort. „Er hat seine Frau drüben in Lerici. Sie war das schönste Mädchen im Ort, mit schwarzen Haaren, die ihr bis zu den Knöcheln reichten, und Augen wie eine Sultansgeliebte. Aber das Allerschönste waren ihre Füße – weiß und zierlich wie aus Elfenbein geschnitzt und mit Zehen so wohlgebildet wie Finger. Ein Bildhauer aus Florenz ruhte nicht eher, als bis sie ihm erlaubte, ihre Füße in Gyps zu gießen – ‚er brauche sie für die Statue einer Madonna,‘ sagte er, ‚daher sei es ein frommes Werk‘ – der Schelm! Wenn sie Abends mit den andern Weibern zum Waschen an den Kanal kam, so standen die jungen Leute oft die halbe Nacht oben auf der Brücke, spielten die Guitarre, daß kein Mensch im ganzen Ort schlafen konnte, und sangen die Stornelli, die Einer an sie gedichtet hatte. Sie aber wollte Keinen als ihren Pietro, der hält sie jetzt als Signora und bringt ihr immer die schönsten Kleider und Putzsachen von seinen Reisen mit. Vor ein paar Wochen kam ihr erstes Kind zur Welt, und nun soll die arme Frau in großer Sorge um ihren Mann sein, weil das Schiff so lange ausbleibt.“

Mich überkam es wie eine plötzliche Erleuchtung.

„O, jetzt ist Alles klar,“ sagte ich. „Am Ersten sollte er hier sein, das war gerade der Tag, an dem der Sturm begann. Diese Holzsplitter, das viele Geräthe, die Strohmatten und der kleine Schuh – ja, es ist kein Zweifel, diese Schuhe hat der Kapitän aus Spanien mitgebracht, um die schönen Fuße seiner Frau zu schmücken – da ereilte ihn das Verhängniß.“

Diesmal erhob Giacomino keine Einwendung mehr, sondern machte ein nachdenkliches Gesicht.

„O, ich kann mir Alles vorstellen, als sei ich dabei gewesen,“ fuhr ich fort. „In Barcelona hat wohl der zärtliche Gatte die Nachricht von der Geburt seines Kindes erhalten. In der Freude seines Herzens geht er, nachdem die Waaren geladen sind, noch bis zur Stunde der Abfahrt in den Straßen an den Schauläden herum, um seiner Frau das Schönste zu suchen, was nur für Geld zu haben ist. An einem Schaufenster stechen ihm diese Schuhe in die Augen, die soll sie tragen, wenn sie zum ersten Mal zur Kirche geht, um den Segen zu empfangen. Das sind zwar Schuhe wie für eine Furstin, aber dem glücklichen Kapitän ist kein Preis zu hoch, um die schönen Füße würdig zu kleiden. Zufrieden kehrt er mit seinen Schuhen an Bord zurück, der Anker wird gelichtet und bald ist bei gutem Fahrwind die französische Küste erreicht. Aber der Kapitän muß zu seiner Qual an allen Häfen anlanden, um Waareu aus- und einzuladen. Acht Tage ist er schon unterwegs, und auf dem ganzen Schiff ist Niemand so ungeduldig wie er selbst. Endlich – am neunten Morgen – kommt er nach Genua, seiner letzten Station. Jetzt nur noch nach Spezia und von da im Nachen heim zu seinem Glück. Da ändert sich auf einmal das Wetter, es ziehen drohende Wolken auf, aber der ungeduldige Kapitän sticht trotz ungünstiger Zeichen in See. In der Nähe von Portovenere muß das Schiff vom Sturm ereilt worden sein –“

Giacomino, der während meines hastigen Sprechens schon mehrmals zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, fiel jetzt ein:

„In der Enge zwischen der Palmaria und Portovenere muß das Unglück geschehen sein.“

„Ja,“ rief ich „ich weiß Alles. Mit zerschmettertem Mast wurden sie an die gefährlichen Riffe der Palmaria getrieben und stark beschädigt; die Kisten, Tonnen und Geräthschaften, deren Trümmer am Strande liegen, sind in dieser letzten Noth über Bord geworfen worden. Aber es ist zu spät – das Schiff sinkt. Die Bemannung flüchtet sich in die Boote, der Kapitän, der wie immer den Kopf oben behält, will als Letzter folgen –“

„Ja, kennen Sie ihn denn?“ unterbrach mich Giacomino ganz erstaunt.

„Ich kann ihn vor mir sehen, er ist ein schlanker, brauner Matros – im Arm hält er sein Kästchen mit den Schuhen, das Einzige, was er von seiner ganzen Ladung gerettet hat. Aber im Augenblick, wo er über Bord springt, wirft eine Welle das Boot weit hinaus und der aufgerissene Schlund reißt den Unglücklichen hinunter. Beim Wiederauftauchen sieht er vielleicht den Leuchtthurm seiner Heimath, und wäre nicht der Sturm, so könnte er vielleicht die Glocken von Lerici das Ave läuten hören.

Aber neue Wellen schmettern über ihn herein, bewußtlos versinkt er in dem Strudel – und aus dem Kästchen, das die Wellen zermalmt haben, treibt ein kleiner Frauenschuh an unsere Bucht.“

Giacomino schwieg ernsthaft, ich hatte schließlich mit meiner Einbildungskraft auch ihn angesteckt.

„Ja, es ist ein böses Handwerk,“ sagte er schließlich nach einer langen Pause seufzend. „Gute Nacht!“

Die ganze Nacht dachte ich an den Unglücksschuh, und so oft ich aus einem kurzen unruhigen Schlaf auffuhr, stellte ich mir die unglückliche Wittwe vor, die jetzt wohl schlaflos auf ihrem Lager stöhnte, während das Meer die Leiche ihres Geliebten nach fernen Küsten wälzt. Das war für mich nunmehr eine ausgemachte Thatsache.

Als ich am nächsten Morgen aus meinem hohen Thurmzimmer auf die Plattform stieg, wo man zugleich das Meer und die Landschaft überblickt, da sah ich unten an den Stufen des Kastells ein weißes Kleid und bunte Bänder durch das Grün des Gartens schimmern und ich erkannte meine treffliche Freundin Signora Clelia, die sich mühsam die steilen Stufen heraufarbeitete, um mir einen Morgenbesuch zu machen. Man muß die Signora kennen, um die ganze Größe dieses Opfers zu würdigen.

Signora Clelia ist unbestritten die eleganteste und vielleicht auch die hübscheste Frau im Ort, und sie läßt sich diesen Ruhm wahrlich sauer werden. ich glaube sogar, ihr nicht ganz unrecht zu thun, wenn ich vermuthe, daß dies der Grund ist, warum sie alljährlich unser stilles San Terenzo zum Badeaufenthalt wählt, denn sie ist darin dem großen Cäsar ähnlich, daß sie lieber in einem Fischerdorf die Erste, als in Rom die Zweite sein mag. Sie allein hält hier die Sitte der großen Welt aufrecht, sich viermal des Tages umzukleiden, gleichviel wie der Stand des Barometers sei. Und doch kann auf der abgelegenen Villa, die sie bewohnt, Niemand ihre Standhaftigkeit würdigen, als ihr Gatte, der sich darüber ärgert.

Aber daraus macht sie sich nichts, ihr ist es nicht um den Beifall zu thun, sie leidet für die gute Sache selbst, sie ist eine Märtyrerin ihres Princips. Dabei ist sie aber stets guter Laune und zwitschert den ganzen Tag wie ein kleiner Vogel. Dieses liebenswürdige, aber etwas anspruchsvolle Geschöpf ist die Frau eines deutschen Professors.

Ich sah, daß sie große Mühe hatte, mit ihrem enggebundenen Kleide und den hohen Stöckelschuhen durch das Geröll heraufzuklettern, und daß sie nach jedem Schritte schwer athmend stehen blieb. Ich eilte ihr entgegen und brachte sie nicht ohne einige Anstrengung vollends herauf.

Auf meinem Zimmer angekommen, ließ sie sich erschöpft in einen Lehnstuhl fallen und fing eifrig mit einem riesigen japanischen Fächer zu wedeln an.

„Ein herrlicher Morgen,“ sagte sie, „heute sind wieder einmal alle Farben durch einander geschüttet in dem großen mittelländischen Farbentopfe.“

Plötzlich sprang sie auf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_431.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2021)