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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

oder minder wohlthätigen socialen Ideen, deren Erörterung und Verwirklichung unsere Gegenwart so mächtig bewegt. Die staatliche Oberaufsicht führt die Polizeibehörde, und gegenwärtig steht die Dienstmannschaft von Berlin unter dem Polizeihauptmann Maurer. Die Gesammtzahl aller Dienstmänner hier beträgt etwa 1000 Köpfe, und zwar vertheilt in mehreren sogenannten Instituten, deren zwei älteste bereits im Jahre 1861 begründet worden, während das letzte, die „Genossenschaft selbständiger Dienstmänner“, seit 1877 besteht. Bekanntlich haben sich die Dienstmanns-Institute über die ganze civilisirte Welt verbreitet – und dieser Erfolg seiner Idee würde den Begründer, falls er ihn eben erlebt hätte, sicherlich hoch beglückt haben.

Berliner Dienstmann.

Das Jubelfest fand in Kellers Hofjäger, einem der in den weitesten Volkskreisen sehr beliebten Vergnügungslokale der Hasenhaide von Berlin, statt und war von etwa 500 Personen besucht. Als Volksfest im vollen Sinne des Worts bot es: „Von Nachmittags 4 Uhr ab großes Gartenkoncert, Familien können Kaffee kochen, Tanz ohne Pause nach der wechselnden Musik einer bürgerlichen und einer Soldatenkapelle, Vorträge des Gesangvereins ‚Modestia‘, Festrede und in der Kaffeepause zwischen 12 und 1 Uhr noch einen Festprolog.“ Zu Nante’s Zeit hieß es:

„Un wenn ich denn nach Hause konnn’,
Thut mene Olle brummen,
Da reich ich ihr die Pulle hin,
Sogleich dhut se verstummen.“

Heut zu Tage aber ist es anders; da gehen in Berlin mit dem Mann zusammen gemüthlich Weib und Kind in die Kneipe, und zwar eben so wohl zum Münchener und Nürnberger Bier, als dorthin, wo die Familien Kaffee kochen.

Da der eingeladene Festredner, Abgeordneter Albert Traeger, dnrch dringende Abhaltung im letzten Augenblick verhindert worden, so trat ich ein, erinnerte die Versammelten an den verdienten Begründer ihrer Institute, hob den Unterschied hervor zwischen ihrer Thätigkeit und der ihrer Vorgänger, der Eckensteher, schilderte die hohe Bedeutung und den Werth der Arbeit für das Menschenleben und schloß mit einem Hoch auf Alle, die tüchtig arbeiten können und wollen.

Zum Schluß muß ich es mir gestatten, noch auf eine absonderliche Seite der Dienstmannschaft hinzuweisen – was sich der Volksmund nämlich von ihr erzählt. So gar manche gesunkene, verkommene Persönlichkeit hat hier den letzten Halt gefunden, und nachdem sie aus Glanz und Ehren, Wohlleben und Vergnügen durch eigene Schuld oder Schicksalstücke hinausgestoßen worden, konnte sie sich noch retten in den Hafen, der für Tausende allein noch im Leben Schutz und Heil gewähren kann: die Arbeit. Da, flüstert uns unser Gewährsmann zu, der große, stattliche Mensch an jener Straßenecke ist ein früherer Gymnasial-Oberlehrer; der dort auf dem Platz war einst Kavallerie-Officier, ein dritter denkt mit Wehmuth daran, daß er auf einem großen Rittergut das Licht der Welt erblickt hat etc. Das sind so genannte gescheiterte Existenzen, die dem Blick des Eingeweihten hier – wie in den Reihen der Droschkenkutscher, Straßenkehrer u. A. – nur zu zahlreich entgegentreten. Kaum erfreulicher ist der Gedanke an die jungen Männer, welche, um zeitweiser Noth und der Verzweiflung zu widerstehen, hier vorübergehend Zuflucht suchen, gleichsam untertauchen in den Wogen des Lebens, sich verbergen mit ihrem Leid und Ungemach, bis es ihnen gelingt, wieder emporzukommen und einen festen Halt im bürgerlichen Leben zu gewinnen. So haben wir hier und da einen Studenten oder Kandidaten, einen Referendar, zahlreiche junge Kaufleute oder auch Handwerker u. A. im Dienstmannskittel vor uns, die darin den einzigen Weg finden, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Dr. Karl Ruß.     




Verlorene Briefe.

000000 Doch nun, lieber Neffe, komme ich zu dem eigentlichen Gegenstande meines heutigen Briefes.

Gewiß erinnerst Du Dich noch, daß, als Du uns vor drei Jahren besuchtest, Du Dich öfters mit meinem braven alten Nachbarn und Freunde Werner unterhalten hast, wenn dieser nach vollbrachtem Tagewerk Abends auf ein Plauderstündchen zu uns herüber kam.

Du äußertest damals wiederholt Deine Freude darüber, in dem alten Werner ein Prachtexemplar unseres westfälischen Bauernstandes mit allen seinen Licht- und Schattenseiten kennen gelernt zu haben.

Kurz nach Deiner Abreise fanden in unserer Gegend die Herbstmanöver statt. Das ganze große Dorf war mit Einquartierung überfüllt. Für den Frieden des Werner’schen Hauses sollte diese Einquartierung verhängnißvoll werden. Ein schmucker Unterofficier verliebt sich in Werner’s einziges Kind Marie. Die Neigung war gegenseitig. Paul Kunze, so hieß der unternehmende Kriegsmann, war nach seinem bürgerlichen Berufe ein tüchtiger Schlosser, der in wenigen Wochen – nach Ablauf seiner Militärdienstzeit – eine gut bezahlte Stelle in einer größeren Maschinenbauanstalt der Hauptstadt übernehmen sollte. Dann, so hofften die jungen Leute, würde der Hochzeit nichts weiter im Wege stehen. Doch wie so oft im Leben erwiesen sich auch diese Hoffnungen als trügerisch.

Vater Werner wollte durchaus nichts davon wissen, daß seine Marie einen städtischen Handwerker heirathen sollte.

Um es kurz zu machen – es wiederholte sich wieder einmal die alte Geschichte von dem hartherzigen Vater und dem standhaften Liebespaare. Nach langem vergeblichen Ringen, nach vielen kummervollen Tagen, fruchtlosen Thränen, Bitten und Vorstellungen von beiden Seiten zerriß endlich das Band zwischen Vater und Tochter. Marie heirathete gegen den Willen des Vaters den Mann ihrer Wahl und zog mit ihm in die entfernte Stadt. Ein Verkehr zwischen Vater und Tochter fand nicht statt. Der alte Werner ließ die Briefe seiner Kinder, in deren letztem Marie ihm die erfreuliche wirthschaftliche Lage der jungen Leute und den Erwerb eines eigenen Häuschens in der Vorstadt mittheilte, unbeantwortet.

So vergingen mehrere Jahre. Da plötzlich, vor etwa vier Wochen, wurde der alte Werner von einem Schlaganfalle betroffen. Der Arzt erklärte, es sei bei einer leicht möglichen Wiederholung des Anfalles Lebensgefahr vorhanden. Ich bat den Kranken, seiner Tochter schreiben zu dürfen und sie zu seiner Pflege kommen zu lassen. Ich stieß jedoch auf den entschiedensten Widerspruch. Wie sehr freute ich mich dagegen, als mir der alte Werner, der inzwischen auch geistlichen Zuspruch empfangen hatte, einige Tage später mittheilte, er selber habe an seine Tochter geschrieben und sie zu sich eingeladen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_421.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)