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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

sah mich verwundert mißtrauisch von der Seite an und versetzte brummend: „Das hat Zeit bis morgen früh.“ ich erwiderte, ich müsse fort; ich habe keinen Augenblick zu verlieren.

„So!“ sagte er gedehnt. „und vorhin hatte man’s so eilig? Wer ist man denn eigentlich?“

„Das gehört nicht hierher,“ erwiderte ich trotzig.

„Nicht hierher? so? Vielleicht gehört man überhaupt nicht hierher unter ehrliche Leute?“

Er sah mir starr in die Augen mit einem Ausdruck im Blick, vor dem mir schauderte. Offenbar hielt er mich – und hatte er nicht Grund dazu? – für einen Verbrecher, der eben von der frischen That kam. Schwerlich wurde ich dadurch schlechter vor diesen gräßlichen, blutunterlaufenen Augen, wohl nur kostbarer. Er hatte mich in seiner Gewalt. Wie hoch war der Preis, für den er mich losgeben konnte?

Ich bin überzeugt, daß der Mensch in diesem Moment sich das fragte, wie ich mich fragte, was ich ihm wohl bieten dürfe? Es war ein harter Schlag für mich, dessen Barschaft so schon gering genug war. Aber was sollte ich thun? Eine halbe Stunde mochte ich doch wohl schon in dieser Hölle zugebracht haben. Ich mußte fort, oder das Passagierbillet in meiner Tasche wurde zu einem werthlosen Stück Papier, und dann war ich ganz verloren.

„Wieviel?“ sagte ich.

„Taxiren Sie sich selbst,“ sagte der Wirth „werde dann schon sagen, ob’s langt.“

Ich war im Begriff, eine für meine Verhältnisse thörichte Summe zu nennen, bei der es doch schwerlich sein Bewenden gehabt hätte, als ein Mann, der in dem äußersten, dunkelsten Winkel des Raumes, das Gesicht in beide Hände gedrückt, an einer Tischecke gefesselt und, wie ich meinte, geschlafen hatte, plötzlich den Kopf hob und nach uns stierte. Mir war, als müßte ich das Gesicht schon gesehen haben; aber der aus Tabaks- und Torfrauch gemischte bläuliche Qualm, welcher den Raum, wie das ganze gräßliche Lokal füllte, war zu dicht – ich konnte es mcht herausbringen, und was war auch daran gelegen? Dennoch hatte der Anblick meine Aufmerksamkeit auf einen Moment in Anspruch genommen und meine Antwort verzögert; im nächsten war der Mann von seinem Sitze aufgetaumelt und hatte ein paar Schritte auf uns zu gemacht. War es möglich? konnte das mein Bruder August sein?

Der Mann war stehen geblieben und fixirte jetzt mich, wie ich ihn. Auf einmal flog ein Lachen über das verwilderte bärtige Gesicht, und einen gurgelnden Laut des Wiedererkennens ausstoßend, der in einen gräulichen Fluch endete, stürzte er auf mich zu und riß mich in seine Arme: „Muttersöhnchen, Zuckersöhnchen! kennst Du mich denn nicht mehr?“ – Und derselbe gräuliche Fluch noch einmal.

Es war ein schlimmes Wiedersehen und das mir doch das Herz seltsam bewegte. Nicht bloß, weil ich in dieser äußersten Noth einen Menschen fand, der zu mir stehen würde. Er hatte mich stets mißhandelt, und ich war froh gewesen, als er aus dem Hause kam; aber er war der Sohn des Mannes, den ich Vater nannte; ich hatte ihn wie einen Bruder geliebt trotz alledem. Das alte Gefühl der Zugehörigkeit, das ich längst erloschen glaubte, wallte mächtig in mir auf, und so erwiderte ich seine Umarmung.

„Na, was heißt denn das?“ sagte der Wirth verwundert.

„Das heißt, daß Du dich zum Teufel scheeren kannst, anstatt hier zu stehen und Maulaffen feil zu halten," schrie August den Kerl an „Oder ja, geh’ hin und mach’ uns einen Grog, Peter – halb und halb! und von Deinem Besten, Du …“ hier folgte ein wüstes Schimpfwort „oder ich komme Dir auf Deine Glatze. Du kennst mich.“

Der Wirth murmelte Unverständliches in seine Bartstoppeln, aber schlürfte gehorsam davon. August hatte mich zu sich an einen Tisch gezogen, der jetzt, wie auch so ziemlich die übrigen, leer geworden war, – von den trunkenen Gästen waren die meisten einer nach dem andern in die gräßlichen Hinterräume getaumelt.

„So,“ sagte er, „wir sind hier ganz unter uns, von den … hört uns keiner. Nun erzähle einmal, Brüderchen, was Du dem Peter nicht auf die Nase zu binden brauchtest – war ganz recht von Dir! Mir kannst Du’s ruhig erzahlen. was hast Du ausgefressen?“

„Nichts, August,“ erwiderte ich, „oder es wäre doch eine lange Geschichte, zu der ich keine Zeit habe. Ich muß fort von hier, auf der Stelle, und ich bitte Dich, hilf mir dazu!“

„Wo willst Du denn hin?“

„Nach Amerika, und das Schiff segelt um zwei.“

Ich sah nach der Uhr. Es war bereits über halb eins.

Ich wollte erschrocken aufspringen; August hielt mich fest.

„So eilig wird’s nicht sein.“

„Ja, es ist!“ rief ich; „ich habe höchstens noch anderthalb Stunden, und ich weiß nicht, wie ich an Bord komme. Ich bitte Dich, halt’ mich nicht auf.“

Der Wirth war wieder hereingekommen, in jeder Hand ein dampfendes Glas, die er vor uns auf den Tisch stellte.

„Trink!“ rief August mir zu.

„Ich kann nicht,“ sagte ich schaudernd.

Er nahm das Glas an den Mund und leerte es bis zur Hälfte in langsamen Zügen. Ich blickte ihn während er trank, stumm stehend in die Augen.

„Na,“ sagte er, das Glas niedersetzend, „meinetwegen.“

Und dann auf französisch und einem guten Französisch dazu, das mir aus seinem Munde gar seltsam klang: – „Hast Du Geld?“

Ich nickte.

„Dann“ – er sagte das wieder französisch – „gieb dem Kerl –“

Er nannte eine kleine Summe und sagte, als ich ihn unsicher anblickte, lachend hinzu: das sei genug, ich könne aber ein paar Groschen mehr geben, wenn ich wollte.

Ich that, wie er geheißen, und zählte das Geld auf den Tisch, von dem es der Wirth in seine hohle Hand strich, augenscheinlich wenig erbaut von diesem Ausgang des Handels, aber ohne Widerrede, von der er sich keinen Vortheil versprechen mochte.

August hatte unterdessen sein Glas vollends geleert, sich erhoben und mit dem Wirth, den er ein wenig auf die Seite zog, ein paar Worte geflüstert. Dann wandte er sich wieder zu mir und sagte, abermals französisch: „Wenn Du aber denen in die Hände läufst, die Dich suchen?“

„Es ist mir Alles eines,“ erwiderte ich ebenso; „aber fort muß ich.“

„Dann komm!“

Der Wirth war mit uns auf einen schmalen Flur hiuausgetreten, wo eine Laterne an der Wand schwälte, und an dessen Ende es eine Reihe Stufen hinaufging bis zu einer Thür, die er aufschloß. Wir gelangten in ein Gäßchen, das ziemlich steil abfiel. Nach der abfallenden Seite sah ich gegen den helleren Himmel die dünnen Linien der Schiffsmasten. Der Anblick und die frische Luft, die von dort heraufstrich, erfüllten mich nach dem Grausen dieser letzten Stunde mit einem unendlichen Dankesgefühl, das ich doch ihm schuldete, der mich aus jener Hölle erlöst hatte. Die Thränen stürzten mir aus den Augen, während ich, unfähig zu sprechen, August an beiden Händen faßte.

„Ja, ja,“ sagte er. „Du bist das nicht gewohnt; unser einer schüttelt das ab, wie der Hund die Flöhe. Wir sind ja nur Hunde, und das Hundeleben, das ich schon seit vierzehn Tagen führe – Tag und Nacht in der Spelunke, und nur des Nachts einmal eine Stunde draußen wie jetzt, um ein Bischen frische Lust zu haben, immer in Gefahr, abgefaßt zu werden, wie jetzt. Und dann ein paar Jahre Festung und hinterher noch ebenso viele Zuchthaus. Und das Alles, weil man kein Tyrannenknecht ist und sich für die Tyrannen nicht die Knochen entzwei schießen lassen will, daß sie ihre schönen Siege gewinnen und sich Retter des Vaterlandes schelten lassen, damit’s doch hübsch beim Alten bleibt. Vereinigtes Deutschland – ich pfeife darauf! Schönes vereinigtes Deutschland da unten in der Spelunke, he? mit dem braven Peter als souveränem Herrscher. Möchte nur alle Fürsten und Minister da mal auf eine Nacht zusammen haben, damit sie wenigstens wissen, wie das Leben der Armen riecht! Sie scheert’s nicht. Beim Teufel, mich scheert’s auch nicht, wenn ich so wollte. Könnte da ruhig unten in der Schweiz sitzen und von anderer Leute Fett leben. Aber wir sind ehrlich und tragen unsre Haut zu Markte, wenn’s für die Brüder sein muß. Hätten mich ums Haar abgefaßt in Berlin; bin nur noch

eben mit heiler Haut davongekommen – just das nackte Leben –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_418.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2018)