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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Er hielt den Schuh in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten.

„Eine reizende Arbeit,“ sagte er. „So etwas wird nicht hier zu Lande gemacht.“

Ich nahm ihni den Schuh wieder ab und stellte ihn zum Trocknen auf das Gesimse.

Giacomino ging gleichmüthig seinen Geschäften nach und legte sich dann mit den andern Schiffern auf die Marina in den Sand, um sich zu sonnen.

Ich sprach ihm den ganzen Tag nicht mehr von dem Schuh, aus Furcht, er mochte mich auslachen.

Aber ich hatte gar keine Ruhe mehr. Immer betrachtete ich den Schuh, der rätselhaft und geheimnißvoll dastand und keinen Aufschluß gab.

O, wenn du reden könntest, dachte ich immer, was würdest du für eine Geschichte erzählen!

Unablässig irrt meine Phantasie mit ihm aus der Wasserwüste herum nach der Stelle zurück, wo er ins Meer geschleudert wurde, und diese Stelle kann nur ein sinkendes Schiff sein. Aber ob er in der letzten Todesangst von einem schönen Fuße abgestreift worden ist, der sich zum Schwimmen rüstete – ach, zu einer hoffnungslosen Verlängerung des Kampfes – ob er nur zufällig von den krachenden, berstenden Planken weggespült wurde, darüber wird mir keine Auskunft.

Tausend schmerzliche Bilder stehen mir vor der Seele, ich kann mich nicht wie sonst zum Träumen unter meinen Baum setzen, unruhig gehe ich hin und her und denke an den geheimnißvollen Schuh.

Endlich, um mich zu zerstreuen, griff ich nach dem einzigen Buche, das mich an das brausende Meer begleiten durfte. Da las ich die Stelle:

„Schon zween Tag' und der Nächte soviel in dem wogenden Aufruhr
Irrt er umher und oft umschwebte Tod ihm die Seele.“

Diese Verse klangen wie ein Orakelspruch und vermehrten meine Unruhe. War es nicht gerade vor zwei Tagen, daß der große Sturm begonnen hatte? Wie wenn am Ende gar ein menschliches Wesen eben jetzt hilflos da draußen umhergetrieben würde, immer die Küste in Sicht, die es nicht erreichen kann? Und dann kommt die Nacht, Haifische tauchen aus der Tiefe, schwimmen neben dem Boote her und warten ruhig auf den Fang, der ihnen nimmer entgehen kann. Denn das Boot ist vielleicht schon leck oder die nächste Welle kann es umwerfen, und dann die Kälte, wenn es dem Morgen zugeht. –

Hier merkte ich erst, wie weit sich meine Phantasie schon verirrt hatte. Ich mußte selber lachen, und alsbald verschwanden die Spukbilder. Was ist denn daran so Besonderes, daß ich einen Schuh am Strand gefunden habe?

Als mir Giacomino das Nachtessen auftrug, sagte er ruhig:

„Mit Ihrer Vermuthung könnten Sie doch Recht haben. Es wird ein spanischer Küstenfahrer vermißt, der am 22. mit vielen Waaren von Barcelona abgefahren ist. Am Ersten sollte er hier sein, aber seit Genua weiß man nichts mehr von ihm. Ein Mann aus Lerici hat es mir heute erzählt.“

„Ich wußte es ja,“ rief ich, und die Befriedigung des Rechtbehaltens übertäubte fast für einen Augenblick das menschliche Mitgefühl.

(Fortsetzung folgt.)




Was will das werden?
(Fortsetzung.)


Ich hatte es ja aus dem Munde des Polizisten, daß dies ein „Verbrecherkeller“ sei, und um hier einzudringen, „mehr gehöre“, und darunter verstanden: mehr Muth, als er mir zutraue. Nun, ich hatte den Muth gehabt und war auf Alles gefaßt; vielmehr ich glaubte es zu sein. Auf das hier war ich nicht gefaßt gewesen: nicht auf das scheusälige Elend, das hier zusammengehäuft war, wie der Kehricht einer Gasse, und über das die Laterne des Wirthes schauerliche Streulichter warf, wie er jetzt vor mir her durch diese entsetzlichen Höhlen schlurfte, hier und da das Bein, den Arm eines der auf dem faulenden Stroh rechts und links Schlafenden mit dem Fuße bei Seite stoßend, einmal auch über einen Haufen Lumpen, der mitten in dem schmalen Gang lag, und in dem ein Menschenleib steckte – ich weiß nicht, ob eines Mannes oder Weibes – ruhig wegschreitend, wie ich es, ihm nach, auch thun mußte, während Ekel mir das Herz zusammenschnürte und Entsetzen mir die Glieder wie im Fieberfrost schüttelte. Ich hatte vorhin geschaudert bei der wüsten Orgie in der Matrosenkneipe und gemeint, das sei die äußerste Tiefe, bis zu welcher das Laster sinken könne; und war doch Alles nur kaum getrübtes Wasser gewesen, in Vergleich zu dem stinkenden Schlamm, durch den ich jetzt zu waten hatte. O, der grauenhaften Stunde, die mir noch jetzt nach Jahren in ihren gräßlichen Einzelheiten dann und wann ein Traum zurückbringt, aus dem ich, in Angstschweiß gebadet, erwache! Und mir einreden möchte, es sei eben nur ein Traum und nicht denkbar, daß so wahnsinnig Scheußliches in der Wirklichkeit existire. Und das ich deßhalb weiter zu schildern nicht versuchen will, da man mir doch nicht glauben und, vermöchte ich das Entsetzliche Zug für Zug wiederzugeben, nun erst recht annehmen würde, ich habe nur eben der Phantasie die Zügel der Vernunft abgestreift und lasse sie dahinrasen, Kinder und Thoren zu schrecken. O Kinderweisheit, o Thorenklugheit, die sich schrecken lassen. O Aberwitz, der die Gefahr nicht sieht! unselige Verblendung, welche die Augen vor dem Abgrund schließt, dem klaffenden Höllenrachen dem nimmersatten, der Jahr aus Jahr ein und Tag für Tag seine Speise in sich schlingt, hungrig nach mehr und immer mehr – die ekle Speise, die doch nur Stücke sind, so er von dir losriß mit gierig giftigen Zähnen von deinem Leib, o Menschheit!

Ich erinnere mich genau, daß es gerade dieser Gedanke war, an dem sich mein betäubtes Gehirn abquälte, als ich, die Augen mit der Hand bedeckend, vor einem Glase Schnaps saß, das der Wirth ungeheißen vor mich hingestellt hatte, nachdem wir aus den Schlafhöhlen heraus in einen Raum gelangt waren, welcher die Gaststube dieser fürchterlichen unterirdischen Herberge zu sein schien. Ein etwas größerer Raum, von dessen schmutzigen, nackten Wänden das Wasser in dicken Tropfen rann, die hier und da aufglitzerten im trüben Schein der Talglichter, welche vereinzelt auf den von übergegossenem Schnaps und Bier klebrigen Tischen qualmten. Es waren nur noch wenige Gäste da, wohl die zuletzt gekommenen, oder solche, die noch ein paar Pfennige dran zu wenden hatten, den letzten Rest von Verstand und Besinnung vollends zu ersäufen; aufgedunsene, todtbleiche oder gräßlich geröthete Gesichter, aus denen die verglasten Augen stumpfsinnig ins Leere stierten oder wie im Wahnsinn brannten. Ich hatte den Anblick nicht länger ertragen können und zwang mich nun doch, wieder hinzusehen, als sei es meine Pflicht, mich, bevor ich ausbräche, noch einmal zu überzeugen, daß dies Fürchterliche wahr und wahrhaftig sei, und ich es sei, der es gesehen und erlebt – derselbe Mensch, der vor noch nicht acht Tagen den Wind hatte rauschen hören durch die Riesentannen oben „auf dem Walde", und von der Freiheit geträumt hatte, die er sich erringen müsse um jeden Preis. Nun, dies hier war der Preis: die Gesellschaft der Elendesten der Elenden – ein grausamer Hohn scheinbar, und der doch die Rechtfertigung dessen, was ich gethan, in sich barg. Der mir sagte: ja, du thatest recht, als du eine Herrlichkeit von dir wiesest, welche sich auf diesem Schlammgrund aufbaut, und deßhalb nicht sein sollte, ja, in Wirklichkeit gar nicht ist, nur ein Schein ist, wie Irrlichttanz auf einem faulen Sumpfe. So hatte Adalbert die Welt gesehen, in deren Glanz beim Sonnenuntergang ich mich berauschte. Ich hatte ihn einen Pessimisten gescholten. Jetzt wußte ich es besser. Es ist leicht, Optimist sein, wenn man nicht sehen will oder – sehen kann.

Der Wirth war eben einmal wieder in den Raum gekommen; ich erhob mich, an allen Gliedern wie geschlagen, und trat zu ihm heran und fragte, was ich zu zahlen habe? Er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_417.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)