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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Mißtrauen, macht vielleicht Feinde und – wiegt sehr schwer im Tornister; allenfalls mag man ihn zur Erweckung eines besonders guten Echos mitschleppen; im Uebrigen findet er keine Verwendung.

Dabei ist es auf den Bergwegen einsamer als in einem anderen Reiseland Europas, Norwegen vielleicht ausgenommen. Wollten die Schäfer, denen man begegnet, einen anfallen und ausrauben, so könnten sie es in aller Gemüthlichkeit; aber es kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Die räuberischen Anfälle in früherer Zeit (der letzte im Jahre 1869) wurden sämmtlich von organisirten Räuberbanden ausgeführt, und mit denen hat die Regierung des früheren Ministers Deligeorgis so unerbittlich aufgeräumt, daß man jetzt durch ganz Griechenland so sicher wandern kann, wie nur irgendwo in Deutschland, in Tirol oder in der Schweiz.

Eine Gefahr freilich giebt es für den einsamen Wanderer, zumal, wenn er nicht beritten ist! Die Unmasse von Dorfhunden, wolfähnliche, große Bestien, die rudelweise auf einen losstürzen, sobald man sich einem Dorf oder einem Weiler nähert. Sie umstellen einen, zeigen einem die spitzen, langen Wolfszähne, und im nächsten Augenblick glaubt man sich zerfleischt am Boden liegend. Die Hunde aber, die da bellen, sind just nicht die besten Beißer, und zudem genügt der Wanderstab und das bloße Drohen mit einem Steinwurfe, um durch die ganze geifernde Meute ungefährdet hindurch zu kommen. Ich habe an manchem Tage wohl ein Dutzend solcher unblutigen Kämpfe ausgefochten, und keine der Bestien ist mir je auf Prügelweite an den Leib gekommen.

Völlig ihren Vorfahren gleich sind die Griechen in einer schönen Tugend, die im übrigen Europa oft zu den frommen Sagen gehört: in der Gastfreundschaft. Mögen die Entbehrungen der gewohnten Wohllebigkeit im Großen wie im Kleinen eine Reise durch den Peloponnes auch noch so anstrengend machen, und mögen auch manche Stunden kommen, wo der Reisende, zumal der einsame, sich recht verlassen und verkommen fühlt – die über alles Lob erhabene Gastfreundschast erquickt ihn, so gut sie es vermag, und deckt über alle Mängel und Blößen den Mantel schönster Menschlichkeit. Selbst ohne Empfehlungen ist ein Reisender in Griechenland, der kein unleidlicher Patron ist, sicher, in jeder Stadt und in jedem Dorf Menschen zu finden, die sich seiner annehmen, und wenn sie als Lohn dafür mit einer geradezu kindlichen Neugier die weitestgehende Auskunft über Namen, Vaterland, Alter, Familienstand, Beschäftigung etc. des Reisenden erfragen, so ist das wohl ein kleiner Fehler, aber keine große Sünde.

Ja, die griechische Neugier! Ich habe mit Reisenden gesprochen, die mir erzählten, daß sie in Verzweiflung geriethen beim ersten Betreten einer griechischen Dorfschenke (Chani). Erst, wenn sich das wiederholt, so oft man sich zur Ruhe irgendwo niederläßt, wird man abgehärtet und nimmt diese Gaffgier für das, was sie ist, für den Fehler einer Tugend. Der Neugrieche ist von einer verzehrenden Wißbegierde; er erlernt Alles, was er sich vornimmt, in kürzester Frist, vergißt es freilich auch leicht genug. Das Leben der „Europäer“ aber, das heißt der Westeuropäer, ist für ihn der wichtigste Gegenstand der Wißbegier. Er möchte gar zu gern es ihnen gleich thun und thut es leider in den Städten viel zu schnell und ohne Geschmack, wie man sich in Athen auf Schritt und Tritt überzeugen kann. Die Wißbegierde ist es, welche das Gaffen und Starren und Ausfragen erzeugt; sie hört bald auf, nachdem man sich angefreundet hat, und nachdem des Wissens erste Gier gestillt ist und die Leute eingesehen haben, daß man auch keine Berge versetzen kann, sondern ein armes Menschenkind ist, wie sie, wenn auch mit anderer Sprache und anderen Sitten. Wem es Spaß macht, Aufsehen zu erregen, der Mittelpunkt eines ganzen Orts zu sein, dieses Verlangen aber in der lieben Heimath nicht nach Herzgelüste befriedigen kann, der gehe von Zeit zu Zeit nach Griechenland: er ist dort in jedem Dorf und in vielen Städten sogleich die erste und wichtigste Persönlichkeit, dem die Kinder nachlaufen, den die Männer umstehen und die Frauen bewundern. Führt man gar einige solche Herrlichkeiten mit sich wie einen Regenmantel, einen Kompaß, ein Opernglas, einen Schrittmesser etc., so kann man eine ganze Ortschaft einen langen Tag unterhalten, als wäre man – ein Seiltänzer oder ein Menageriebesitzer. Die Hantirung mit der Zahnbürste, mit einem Nagelmesser oder sonstigen Unentbehrlichkeiten des „civilisirten Mitteleuropäers“ macht einen zum Helden, wie einen geschickten Taschenspieler. Verläßt man das Dorf, so muß man schon sehr plump im Umgang mit Menschen gewesen sein, wenn man nicht verabschiedet wird wie ein Ehrenbürger. Aber dieselben Leute, die einen mit solcher Neugier umdrängt haben, sind es auch gewesen, die einem Obdach und Speise gewährt, und wenn es Bauern gewesen sind, nicht ein gewerbsmäßiger Herberger, so hüte man sich, ihnen Geld anzubieten, will man nicht als Feind von ihnen scheiden. Den Kindern mag man irgend etwas schenken, aber kein Geldstück, irgend einen bunten Tand. Aber im Uebrigen heißt es von den Griechen wie von jenem „Wirthe wundermild“ in Uhland’s Gedicht: da schüttelt er den „Gipfel“.

Wir feingebildeten, mit Hôtels und Oberkellnern und „Service“ und „Bougie“ gesegneten und übergesegneten Europäer wissen so wenig mehr von einfach menschlicher Gastfreundschaft gegen Wildfremde, daß wir bei einer Wanderung durch Griechenland aus dem Staunen und – ich gestehe sie wenigstens für meine Person – aus der Rührung nicht herauskommen. Es sind ja doch nicht die paar Franken mehr oder weniger für solch ein Nachtquartier mit Zubehör von Abendbrot und Frühstück, die einem am Herzen liegen; es ist der Zauber reiner Menschlichkeit, der sich überall da am herrlichsten offenbart, wo der Fremde dem Fremden, dem zum ersten Mal im Leben gesehenen und wahrscheinlich nie wiederzusehenden Menschen entgegentritt.

Man sage von den Stadtgriechen so viel Schlechtes, wie man wolle – ich sage es nicht, denn ich habe sie nicht ärger gefunden als die Städter sonstwo –, aber vom Kern des Volkes, von den griechischen Bauern schlecht zu sprechen, das ist bisher noch keinem Reisenden, auch dem übelwollendsten nicht, in den Sinn gekommen. Dieser Kern aber ist zum Glück der weit überwiegende Theil des griechischen Volkes im eigentlichen Griechenland, und sollte einst Epirus, Makedonien, Kreta und das andere Inselklein des aegäischen Meeres an Hellas fallen, so wird dieser beste Bestandtheil des Volkes eine bedeutende Bereicherung erfahren. Aus diesem Kern heraus aber wird dem Lande die Zukunft erblühen, nicht aus der städtischen Kruste, die sich um das Volk gelagert hat. Das griechische Landvolk ist ein starkes, anspruchsloses, gastfreies, keusches, durch und durch bildungsfähiges Geschlecht, und Keiner, der es gesehen, der mit ihm geschlafen und gewacht, gegessen und getrunken, und namentlich Keiner, der mit ihm gesprochen in der Sprache des Landes, zweifelt daran, daß aus diesem Volk etwas für den ganzen Orient sehr Bedeutendes werden kann, wenn es von einer weisen Regierung geleitet wird.


Das Menschenopfer und die Grabesnachfolge.

Eine kulturgeschichtliche Skizze. Von C. Falkenhorst.
(Mit Illustration Seite 380 und 381.)

Aus dem lichten Bilde, welches uns die Geschichte des erfinderischen phönicischen Volkes bietet, ragt düster ein ehernes Standbild hervor, das aller Menschlichkeit spottet. Ueberall an den Küsten des mittelländischen Meeres finden wir im grauen Alterthum die Tochterstädte von Tyr und Sidon, Pflanzstätten der Kultur in barbarischen Ländern; in den Häfen zahllose Ruderschiffe, darin unerschrockene Seefahrer; in den Städten reiche Kaufmannshäuser mit fleißigen frohen Menschen; Glück und Reichthum schirmen das Volk. Und doch wenden wir mit tiefem Schmerz unser Antlitz von dieser Kultur ab, die eine unheimliche Gottheit beschützt. Dort vor dem prachtvollen Tempel steht ihre Bildsäule – wie ein zürnender Dämon. Eine menschliche Riesengestalt aus Erz, einen Stierkopf auf dem Nacken, streckt sie opferverlangend die gewaltigen Arme aus. Und an gewissen Tagen naht das Volk im feierlichen Aufzuge zum Tempel seines mächtigsten Gottes, dessen Leib sich von den entfachten Flammen röthet, und nun legen die Priester das verlangte Opfer auf die emporgestreckten glühenden Arme – lebende Kinder und Jünglinge sind es, die der Grausame langsam in seinen heißen Schlund hinabgleiten läßt. Kein Klageton läßt sich vernehmen, denn, alle menschlichen Laute erstickend, schallt jetzt der wilde Lärm der Pfeifen und Pauken. Nur in dem Herzen der daneben stehenden Mutter, die ihr Kind opfern mußte, bäumt sich wild der Schmerz, regt sich das Menschlichkeitsgefühl und rüstet sich zum Kampfe gegen den grausamen Gott Moloch!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_390.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2021)