Seite:Die Gartenlaube (1886) 385.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Lippennagen ist kaum zu ertragen. Einige bringen die Unarten ihrer Kinderjahre mit ins erwachsene Alter hinüber. Ich sah einen meiner Schulkameraden noch mit dem dreinundzwanzigsten Jahre die Zunge unter die Unterlippe schieben und Beides in Bewegung setzen. So saß er mit zerstreutem Gesicht auf der Schulbank, und so hörte er in späteren Jahren schweigend Anderen zu. Sein Vater hatte es ebenso gemacht bis an seinen Tod.

Jüngst beobachtete ich eine Scene zwischen einem Leisesprechenden und einem ungeduldigen, etwas herrischen Geschäftsmann. Der Leisesprecher, zudem ein Lispler, begann seine unverständliche Rede.

„Verstehe kein Wort!"

Der Supplikant wiederholte in gleichem, gedämpftem Ton, was er eben gesprochen.

Jener griff ein verständlicheres Wort heraus, zuckte mit unverkennbarem Unbehagen fragend die Achseln und ging an sein Pult zurück, als ob der Besucher nicht mehr anwesend sei.

Es entstand eine Pause, nach welcher der Lispelnde nochmals begann, diesmal aber, vielleicht aus Furcht, nur noch Laute hervorhauchte.

„Lieber Herr! Räthsel zu rathen, fehlt mir die Zeit. Entweder sprechen Sie, daß man's hören und verstehen kann, oder entfernen Sie sich!"

Nach diesem heftigen Ausbruch nervöser Ungeduld öffnete der Fremde zwar noch einmal den Mund, aber ein völliges Unvermögen stellte sich ein. Er verbeugte sich schließlich betreten, ging und ward nicht mehr gesehen.

Die Ausführlichen, die selbst aus offener Straße im strömenden Regen ihre langen Tiradeu ablösen und ihre Mitmenschen empfindungslos festhalten, sind auch nicht allzu selten. Ausführliche Erzähler sind furchtbare Quälgeister der Menschheit.

Welch eine Erquickung, wenn in der heutigen beschäftigten Zeit Jemand kurz, knapp und klar seine Meinungen und Wünsche äußert! Und das gilt nicht nur im geschäftlichen Verkehr, auch in der gesellschaftlichen Konversation wirkt das präcise, das Wesen da Sache betreffende Wort überaus anheimelnd. Wem der Schöpfer schnelles Fassungsvermögen nicht verlieh, der möge wenigstens nachdenken, bevor er redet. Ohne vorheriges Nachdenken aber sprudelt der langsam Ueberlegende seine Meinung heraus, und so ersteht das Geschwätz, welches mit der Leierkastenmelodie in der Musik zu vergleichen ist.




Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)


10.

Es war ein sehr weites und hohes Gemach, in welchem ich kaum eine Einzelheit erkennen konnte, da es, nach Westen gelegen, Abendwolke erfüllt war, daß ich im ersten Momente nicht einmal die Lampen bemerkte, von denen eine auf einen großen Tisch in der Mitte, ein paar andere in den Ecken auf Postamenten brannten. Ich hatte, eintretend, Reisetasche und Mütze auf einen Sessel neben der Thür gelegt, während der Herzog bis zu dem Tisch geschritten war, an welchem er sich jetzt in einen Armstuhl niederließ, mich auffordernd, zu ihm zu kommen und auf einem Sessel vor ihm Platz zu nehmen. Ich gehorchte, vorsichtig über den glatten Marmorfußboden schreitend, der nur da, wo er saß, und an einigen anderen Stellen mit Teppichen belegt war. Mein Fuß war so lange auf Moosboden getreten, und die marmorne Pracht, die mich umgab, so wenig ich auch davon unterscheiden konnte, machte einen schauerlichen Eindruck auf mich, da mir unwillkürlich der weite von Blumenduft erfüllte Raum, in welchem die beiden einzigen Personen zu verschwinden schienen, die niedrige, von Menschen wimmelnde, dunstige Waldschenke und das Leben der armen Leute „vom Walde“ in Erinnerung brachte.

So fielen denn die Antworten die ich dem Herzog auf seine mancherlei in der bei ihm gewohnten raschen und kurzen, oft abspringenden Weise gestellten Fragen gab, recht mangelhaft und verworren aus. Ich fühlte das wohl; er aber schien es nicht zu bemerken, obgleich er sonst dergleichen ungebührliche Zerstreutheit hat sofort und streng rügte. Ich hatte den Eindruck, als ob er selbst mit irgend etwas, das mit seinen Fragen in keinem Zusammenhange stehe, innerlich beschäftigt sei und an meinen Antworten so wenig ein Interesse nehme, als an seine aufs Gerathewohl gestellten Fragen. Oder an der Erzählung seiner Berliner Erlebnisse, in die er, ich weiß nicht wie, gerathen war, und in welcher „der Mann, dessen Namen er nicht zu nennen brauche“, die hergebrachte unliebsame Rolle spielte. Zugleich sagte mir eine Stimme, daß dies Etwas, was ihn innerlich beschäftige, sich auf Adele beziehen müsse; er hatte sie sicher nicht uns allein lassen heißen, damit wir das völlig unfruchtbare Gespräch mit einander führen könnten.

Und ich schien mich nicht getäuscht zu haben. Plötzlich traf ihr Name mein Ohr, nicht: Adele, sondern: Frau von Trümmnau wie er sie immer mir gegenüber nannte.

„Sie erinnern sich,“ fuhr er fort, „was ich Ihnen an dem Abend vor meiner Abreise sagte. Ich weiß, daß Sie einen lebhaften Antheil an der liebenswürdigen Dame nehmen, wie sie selbst – was Sie sich immerhin als ein Kompliment anrechnen dürfen – sich nicht minder lebhaft für ihren jungen Protégé interessirt. Als ein solcher echauffirten Sie sich, wie billig, neulich Abends für ihre Dame, und ich glaube, ich gerieth darüber ebenfalls in einen großeren Eifer, als just nöthig war – sich zum wenigsten in der Folge nöthig erwiesen hat. Ich will nicht sagen, daß Frau von Trümmnau gestern Abend – ich bin bereits seit gestern Abend zurück – und selbst noch heute nicht auf ihre Emancipationsideen zurückgekommen ist. Sogar mit einiger Lebhaftigkeit Aber meine alte erprobte Erfahrung und Welt-, Menschen- und Herzenskunde hatten doch einmal wieder Recht behalten. Sie konnte denn doch nicht in Abrede stellen, daß das Bild des famosen Russen in den Jahren ein wenig stark eingedunkelt ist und verhältnißmäßig an seinem Zauber verloren hat. Und nebenbei vermuthllch vice versa obgleich ich ein zu höflicher Mann bin, einer schönen Frau gegenüber auf diese Seite der Medaille auch nur hinzudeuten. Es bedurfte dessen auch nicht, da sich auch ohne das die Vortheile ihrer hiesigen Situation für ihre klugen Augen ganz von selbst in das rechte Licht gestellt hatten. Entin, wir beide: Frau von Trümmnau und ich, haben unsere kleine Differenz á l´ aimable ausgeglichen und ich theile Ihnen das mit, weil ich weiß, daß es Sie freue wird, und damit Sie dieser ihrer Freude, wenn die Rede, wie wahrscheinlich, zwischen Euch Beiden daraufkommt, einen diskreten Ausdruck geben."

Ich war starr. Denn von zwei Dingen konnte doch nur eines sein: entweder Adele hielt trotzdem an ihrer Liebe fest und hatte also gelogen, als sie dieselbe scheinbar preisgab; oder sie hatte sie wirklich preisgegeben und dann den Mann verrathen, an dessen Halfe sie vor meinen Augen gehangen. War aber das Letztere der Fall - und in meiner verzweifelten Stimmung hielt ich es für wahrscheinlich, um es im nächsten für gewiß zu halten - nun, es gab eine Zeit wo meine eifersüchtige Liebe darüber aufgejauchzt hätte. Jetzt nicht mehr. Jetzt, wo ich ihr nach so schweren Herzenskämpfen voll und rein entsagt, empfand ich nichts als Empörung über einen so schimpflichen Verrath des Herzens um die dreißig Silberlinge elender weltlicher Vortheile. So mochte sie den hinfahren auf dem stolzen Glücksschiff mit den seidenen Segeln, das zu verlassen ich im Begriff war und nun gewiß verlassen wollte!

„Es scheint, dieser Ausgang hat Sie denn doch überrascht?" sagte der Herzog, als ich beharrlich schwieg, mit einem Stirnrunzeln des Erstaunens.

„Ja, Hoheit," erwiderte ich entschlossen; „er hat mich überrascht, und ich gestehe, auf eine peinliche Weise."

„Ich bitte gehorsamst, mir das zu erklären," sagte er, indem sich die Falten auf seiner Stirn vertieften.

„Ich fürchte, Hoheit wird von meiner Erklärung wenig befriedigt sein," fuhr ich fort, nun, da die Entscheidung gekommen war, mit einer Festigkeit, über die ich erstaunt war. „Ich halte es aber für das heilige angeborene Recht jedes Menschen, sich sein Schicksal nach seinen Ueberzeugungen und nicht zum wenigsten nach den Bedürfnissen seines Herzens zu gestalten. Wer dies Recht aufgiebt, macht sich zum Sklaven, schmiedet sich an die Kette, und wäre sie von Gold. Und um so schlimmer, wenn sie von Gold ist, denn dann liegt der Preis gleich bei der Waare, und dem Sklaven bleibt nicht einmal der armselige Trost, sich einbilden zu können, er habe seine Freiheit verschenkt."

Ich hatte sicher geglaubt, vielmehr, ich hatte gehofft, der

Herzog werde das nicht von seinem Schützling geduldig hinnehmen;

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_385.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2021)