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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Gesammelten Geistes prüfte sie die Gaben der ihr anvertrauten Schäflein und machte danach ihre Vorschläge.

Aber es lag ein Zug von Sorge in ihrem Antlitz, der nichts gemein hatte mit den Entscheidungen, die zu treffen waren.

Was fehlte ihrem Neffen? Er wurde immer bleicher und stiller. Die Kur in Jungbrunnen hatte er aufgegeben und auf ihre Bitte, dorthin zurückzukehren, mit einem entschiedenen stummen Kopfschütteln geantwortet. Seine weiche Tenorstimme hatte so müde und traurig in der Betstunde geklungen, als er den Vers anstimmte: „Hüter, ist die Nacht nicht hin?“ Was konnte den jungen Bruder, dessen unsträfliches Leben klar vor Aller Augen lag, aus seinem Frieden gescheucht haben? Sie wußte keine Antwort.

Da griff sie nach ihrer Ziehbibel. Das Futteral aus geblümtem Papier, die vergilbten Blätter zeigten, wie lange und oft schon in Bedrängniß zitternde Hände Rath und Trost in ihr gesucht hatten.

Auch heute that sie treulich ihren Dienst. Wenn der Spruch, den Jakobine zog, auch keinen Aufschluß gab, so stellte er sie doch in seiner schlichten Erhabenheit auf den höchsten Standpunkt, unter den unmittelbaren Schutz des Herrn, daß Sorge und Kummer unter ihren Füßen lag, wie das Gewölk unter dem Gipfel des Berghauptes, das seine Stirn im klaren Aether badet.

Aber für jeden Menschen kommt einmal der Augenblick, in welchem selbst der erhabenste Berather ihm nicht mehr Beistand zu leisten vermag. Dann muß er für sich allein den Kampf in seiner Seele ausfechten, das Wort der Erlösung in sich finden.

Johannes wandelte heute ohne seinen Freund Thomas a Kempis nach dem waldigen Berge hinüber, auf welchem der verfallene Bergfried von Falkeneck emporragte.

(Fortsetzung folgt.)

Allerlei Nahrung.

Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
II.0 Die Auster.

Ein unscheinbares, vollkommen unbewaffnetes und doch in allen Kämpfen so streitbares und sieghaftes Wesen! Ruhig und gemessen seit Jahrtausenden vorwärts dringend, erobert die Auster nach und nach die ganze Welt und pflanzt überall ihre Fahne auf, ohne befürchten zu müssen, daß man ihren Kolonialbesitz im Innern der Kontinente ihr streitig zu machen versuchte. Die Auster wurde, wenigstens im Norden, schon gesucht, gefischt, geehrt und verzehrt, bevor man das Metall kannte — die Haufen ihrer Schalen bilden in der alten wie in der neuen Welt den größten Theil jener Küchenabfälle, durch deren Untersuchung besonders dänische und nordamerikanische Gelehrte sich verdient gemacht haben. Unsere ältesten Kulturlehrer, die Römer, wie liebten sie die Auster! Welche Sorgfalt ließen sie ihr angedeihen! Mit welchem Eifer studirten sie ihre Fortpflanzung, ihre Züchtung! Ich weiß nicht, ob in den neuerdings so beliebten Kulturromanen aus der Kaiserzeit nicht vielleicht ein Frühstück in Bajae beschrieben wird. Die Auster spielte gewiß in diesem Badeorte, der Baden-Baden und Ostende in sich vereinigte, eine wesentliche Rolle, und der Kellner des Restaurants „Apicius“ stellte gewiß dem zur Frühstückszeit Eintretenden auf Lateinisch dieselbe Frage, welche mir fast zwei Jahrtausende später der Besitzer von Wilken’s Keller in Hamburg stellte: „Ein Dutzend Natives, Herr Ständerath? Ausgezeichnet schön heute und ganz frisch!“ (Der Mann war ein Graubündner und hielt darauf, sein schweizerisches Patriotengefühl durch den schweizerischen Titel, den er mir gab, zu bethätigen.)

Wenn Stephan die neue Aera der Post in das Leben gerufen hat, so hat die Auster sie eingeleitet. Die Auster, die um jeden Preis frisch und lebend an den Ort ihrer Bestimmung gelangen muß, hat zu steter Beschleunigung der Kommunikationen den Anstoß gegeben. Die Römer schon transportirten sie auf wenigstens tausend Kilometer Entfernung. Man hat Haufen von Austerschalen, die nur aus dem Mittelmeere stammen können, in der Nähe römischer Villen am Rheine und in dem Jura gefunden. Ich sage wohlbedacht: Austern aus dem Mittelmeere, denn die kleine, tiefe Löffelauster, die man an allen italienischen Küsten verspeist, läßt sich auf den ersten Blick von der flachen Nordsee-Auster unterscheiden. Später lernten die Römer freilich auch die englischen Austern, unsere Natives, schätzen und sogar mit Recht den Mittelmeer-Austern vorziehen.

Es giebt Austern und Austern, und wie es Feinschmecker giebt, welche die verschiedenen Rheinweine nach Ort und selbst nach Jahrgang zu unterscheiden wissen, so giebt es geübte Zungen oder vielmehr Gaumen, welche beim Durchschlüpfen des Austernleibes in den Schlund zu unterscheiden wissen, ob die Auster in Holstein oder Ostende, an der englischen oder französischen Küste vom Grunde gekratzt oder, um es richtiger zu sagen, gezüchtet und gemästet wurde.

Alles, was lebt, nährt sich und Alles, was sich ernährt, kann gemästet werden, lautet der Ausspruch eines Weisen. Er bewährt sich bei der Auster. Der Schwerpunkt des Austernhandels im Großen liegt in der Mästung, welche die Auster nicht nur fett macht, sondern ihr auch einen besonderen specifischen Geschmack ertheilt.

Fischerei, Züchtung, Mästung und Vertrieb der Austern sind aber keine unbedeutenden Geschäfte. Wenn man bedenkt, daß Paris allein in den Monaten des Jahres, welche ein R in ihrem Namen haben (September bis April), nahezu an hundert Millionen Stück Austern, London etwa das Doppelte verzehrt, so wird man sich einen Begriff von dem Umsatze an Arbeit und Geld machen können, der zur Befriedigung des Austernmarktes nöthig ist. Dabei muß man aber noch wohl ins Auge fassen, daß der Großhandel mit Austern sich nur von den Küsten der Nordsee und des Oceans auf europäischer wie amerikanischer Seite sein Material holt und auch hier nur in beschränkter Ausdehnung, zwischen dem fünfundsechzigsten Grade nördlicher Breite bis zum Meerbusen von Biskaja und an der amerikanischen Küste von Kanada bis Virginien. Polarmeer und Ostsee haben keine Austern, und das Mittelmeer, die Wiege der Austernzucht, treibt heutzutage nur lokalen Kleinhandel, ohne Bedeutung für die größere Bewegung.

Das hängt mit mancherlei Umständen zusammen. Die Auster ist eine reine Küstenbewohnerin, die nicht über zwanzig Faden Tiefe hinabgeht, also auf einen sehr schmalen Saum am Meere beschränkt ist. Sie muß sich, um leben zu können, mit der einen, tieferen Schale an den Boden ankitten, der mithin eine gewisse Festigkeit zeigen muß; loser Sand giebt ihr keinen Haltpunkt, feiner Schlamm und Schlick erstickt sie, indem er ihre Kiemen unwegsam und damit die Athmung unmöglich macht. So bleiben denn nur Felsen und festere Gründe zur Anhaftung übrig. Die aus den Eiern geschlüpften Larven schwimmen mittelst Wimpersegeln eine Zeitlang umher, um diese Anheftungsgründe aufzusuchen — Millionen gehen dabei zu Grunde. Was thut’s? Eine einzige ausgewachsene Auster producirt alljährlich in den Sommermonaten über eine Million Eier. Aber auf den Felsen bleiben die Austern vereinzelt und bilden keine großen Gesellschaften, keine Bänke, die allein lohnend mit dem Schleppnetze ausgebeutet werden können. Freilich ist eine Felsenauster ein Hochgenuß für den Fischer oder Forscher, der sie zufällig findet, aber sie ist kein Handelsgegenstand. In dem deutschen Wattenmeere auf der Westküste der jütischen Halbinsel finden sich Austern nur in den tieferen Rinnsalen, wo die Strömungen von Ebbe und Fluth den feinen Schlick weggefegt und den harten, aus Sand und Thon zusammengekneteten Boden frei gelegt haben, und ganz so verhält es sich an den übrigen europäischen und nordamerikanischen Küsten.

Man klagt über Verödung der Austernbänke und hat vielfache Versuche gemacht, dies werthvolle Muschelthier künstlich zu züchten. Verstehen wir uns recht: Wenn Züchten so viel heißt als Auferziehung vom Ei bis zur Marktfähigkeit, so sind alle diese Versuche mißglückt; wenn das Wort aber nur so viel bedeuten soll, daß man angeheftete Austernbrut weiter pflegen, ernähren und mästen kann, so sind die Versuche gelungen, sobald geeignete Stellen und geeignete Leute vorhanden waren. Die sogenannten Austernparks von Arcachon, Morbihan, Cancale, Marennes, Ostende, Whitstable u. s. w. sind sprechende Beweise

dafür, daß an geeigneten Stellen die Austernpflege und –mast sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_364.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)