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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Glas Milch trank. Wenn sie heute zum Tanz ging, die Kette aus gebogenen Dukaten um den Hals, dann sahen Nachbarn und Freunden voll Achtung auf den Schmuck, der von der Urgroßmutter auf sie vererbt war. Sie lernte die Demüthigung nicht kennen, die Leonore erdulden mußte, wenn sie ihr Collier aus Sapphiren trug und in jedem Blick, der den Werth der großen Juwelen abschätzte, die versteckte Frage las:

„Woher?“

Sie vermochte nicht das stolze offene Wort zu sprechen, das alle Zweifel niederschlug. Wer würde bei ihr ausharren, wenn sie ihr Geheimniß offenbarte?

Er?

Die Lora murmelte, als wolle sie mahnen: Alles ist unbeständig. Die Liebe vergeht, die Treue wird gebrochen heute wie vor tausend Jahren.

Und wenn sie nicht einmal auf ihn rechnen durfte, der mit jedem Worte, jedem Blicke, früh und spät um ihre Liebe warb, wer blieb ihr dann?

Niemand!

Da stieg vor ihrer Seele eine dunkle hohe Gestalt auf, und eine ernste Stimme sprach:

„Wir lieben auch die irrende Schwester.“

Bruder Johannes! Ja, ihm hätte sie Alles sagen können: er würde vergeben. Und bei der Erinnerung an ihn wurde es still in ihr, wie stürmische Wogen sich im Mondenstrahl glätten.

Aber sie hatte ja keine Zeit, sich auszuruhen. Sie mußte ja doch hinüber über den Abgrund auf schwankendem Seil, die Balancirstange von Gold in der Hand. Am Ziel winkte ihr der schöne ritterliche Mann, um dessen Freiherrnkrone der Dichterlorbeer sich schlang. Sie mußte die Kraft gewinnen, die Seele des Geliebten so sich zu eigen zu machen, daß er sich über alle Vorurtheile der Welt mit ihr aufschwang und sie beide vereint im Sonnenlicht des Lebens sich freuten, zwei freie Falken. –

Ueber dem Hainberg begann der Himmel sich rosig zu färben. Die kleinen Bachstelzen waren munter geworden. Sie wippten heran, tauchten die Schnäbel in die Lora und schluckten, die zierlichen Köpfchen zurückgebogen, den kühlen Morgentrunk.

Und in das Wasserrauschen und das noch vereinzelte verschlafene Vogelgezwitscher tönte fernher aus den Waldthälern ein einförmiger wehmüthiger Gesang, als sei er dem klagenden Winde, den murmelnden Wellen abgelauscht. „Lora, die Gute!“ klangen deutlich die lang aüsgehaltenen Schlußworte. Das Volk sang, vom Blumenopfer heimkehrend, das uralte Lied von der Wasserholde.

Es war die höchste Zeit, die Lora um ihre Weissagung zu fragen.

Leonore trat ohne Scheu mit den nackten Füßen in die Wellen, die am Ufer empor spülten, neigte sich nach Mitternacht, wo die Götter der heidnischen Deutschen wohnen sollten, und übergab ihre Blume der Lora.

Sie sah der Wasserrose nach. Noch einmal hob sie sich auf dem Kamm einer Welle. Dann war sie in dem Dämmerlicht verschwunden. Steuerlos trieb sie hinaus, einem unbekannten Schicksal zu – wie sie.

Sie beugte sich mit ihrem Glas und schöpfte stromabwärts.

Dann ging sie zurück.

In ihrem Zimmer stellte sie den Kelch auf den Tisch und zündete eine Kerze von gelbem, noch süß nach Honig duftenden Wachs davor an. Mit erwartungsvollem, halb furchtsamen Blicke schaute sie hinein.

Perlen stiegen leise auf und vergingen – dann sah sie nichts mehr. Doch allmählich wurden Irisfarben, zart wie ein Hauch, in einem Halbkreise sichtbar. Feine Strahlen schossen dahinter empor.

Sie wußte nicht, ob sie es sah, oder ob es ein Blendwerk der Augen war.

„Eine Glorie! Der Strahlenkranz um den berühmten Dichternamen!“ flüsterte sie mit heißen Wangen.

Da schwand es. Das Tageslicht war gekommen und ließ das Kerzenlicht verblassen.

„Das Glück wirft seinen Strahl voraus,“ jauchzte Leonore selig.

„Und das Unglück seinen Schatten,“ antwortete eine müde Stimme hinter ihr.

Sie zuckte zusammen und sah in das blasse Gesicht ihrer Mutter, die geräuschlos eingetreten war.

„Ich habe ängstliche Träume gehabt,“ sagte sie, „die mich nicht wieder einschlafen ließen. Immer sah ich den Schatten des Treffbuben vor der Thür, und als ich darauf zuging, schrumpfte er zusammen, und es blieb nichts übrig als ein kleines schwarzes Kreuz.“




Die übrigen Badegäste übten den Wasserkultus auf andere Weise. Sie gingen nicht barfuß, sondern auf hohen Hacken, zogen die Gürtel so fest als möglich zusammen, halfen der Schönheit eigenhändig durch zarte Schminke und feine Striche mit dem Tuschepinselchen nach und opferten statt Blumen das gelbe Metall. Den Hauswirthen wurde es dargebracht, die ihre in der ganzen Welt bekannte Kunst übten, aus jedem Verschlag ein Boudoir, aus jedem alten Großvaterstuhl einen Fauteuil zu machen; der Brunnenverwaltung, die es durch allerhand Schriftwerk einkassirte; und vor Allem der Spielbank.

Es wurde Tag und Nacht nicht Ruhe. An die letzten Gäste, welche die Säle des Konversationshauses verließen, schlossen sich bald wieder die Kranken an, die mit ihren Bechern fertig sein wollten, bevor der glänzende Strom die Alleen füllte, die Brunnenhalle überschwemmte.

Nur in den Mittagsstunden, in denen die Sonne in das Lora-Thal hinein stach und von den vulkanischen Felsen zurückprallte, die heißen Quellen unterirdisch den Boden zu heizen schienen und die Dämpfe, die sie aushauchten, die Lust schwer machten, wurde es still in Jungbrunnen. Dann flüchtete Alles hinter die geschlossenen Jalousien.

Diese Zeit blieb Heino für seine neue Dichtung.

Die Ausstattung seines Arbeitszimmers verrieth, daß hier ein Lieblingsdichter der Damen hauste. Er legte ihnen in jedem Jahre auf den Weihnachtstisch ein mit Goldschnitt und reichem Einband geschmücktes Büchlein, dessen Seiten winzige Gedichte mit mikroskopischen Pointen zeigten, von denen Ravensburgk stets behauptete, „sie heinelten ihn an“. Die Damen feierten ihn dafür mit Notizbüchern, auf die goldene Leiern gestickt waren, und Tintenwischern, auf denen Rokokodämchen saßen.

Eine Prinzeß hatte ihm sogar für ein Festspiel zu ihrem Geburtstag einen Briefbeschwerer mit eigner Hand modellirt, die regierende Fürstin ihm für eine Widmung das silberne Schreibzeug mit ihrem Namenszug verehrt. Seine Mutter war auch hier besorgt gewesen, daß Lorbeerbäume um den Schreibtisch aufgestellt wurden. Und Leonore hatte ihm als Vielliebchen die Marmorbüste Apollo’s geschenkt, die auf einem Sockel dahinter sich erhob.

Der Tempel war bereit, die Musen zu empfangen.

Aber sie erwiesen sich spröde in letzter Zeit.

Auch heute lag das feine weiße Papier, auf das er zu schreiben pflegte, in unangetasteter Reinheit vor ihm.

Er saß im schwarzen Sammetrock, den er als eine Art Amtstracht für die Dichter erachtete, davor und schaute verdrießlich vor sich hin.

Einzelne hübsche Momente fielen ihm wohl ein. Auch die Gestalt der Lora konnte ihm nicht mehr entgehen. Sie umschwebte ihn überall und sah ihn mit Leonorens strahlenden Augen an. Aber vergeblich zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er den Faden der Dichtung von Anfang bis zu Ende fest und unverwirrt zu führen habe. Bisher waren seine Poesien die Kinder einer augenblicklichen Stimmung gewesen. Flüchtige Gedanken hatte er eingefangen wie Schmetterlinge. Nun sträubte sich seine Natur gegen die Arbeit, ein Schema zu entwerfen. Selbstverständlich! Das Genie hatte einen Widerwillen gegen die Handwerksgriffe. Aber es half nichts. Er mußte den Pegasus in den Pflug spannen. Zum hundertsten Male faßte er diesen Entschluß.

Da schaute seine Mutter in das Zimmer.

„Arbeite nicht zu anhaltend, liebes Kind,“ mahnte sie zärtlich. „Man hat Beispiele von Gehirnerweichung bei geistiger Ueberanstrengung.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_327.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2021)