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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Auf welchen Bildungsgrad ist nach Allem zu schließen, was man aus ihrem Munde gehört hat und was man in ihrem Nachlaß fand?

Kann man doch nicht einmal herausfinden, welches ihre Muttersprache war. Ist sie eine Französin gewesen, welche Deutsch erst gelernt hat, oder keine Französin, so daß es als Hinweis auf höhere Bildung gelten könnte, wenn der Graf von ihr sagt: „Sie sprach sehr gut französisch“?

In des Grafen Absicht lag offenbar die Verbreitung der letzteren Annahme. Deßhalb theilte er der Wittwe des Pfarrers Kühner (mit welcher er die mit ihrem Manne gepflogene Korrespondenz bis zu seinem eigenen Ende fortsetzte) einst einen Brief mit, welchen die Dame schon am 22. September 1808, also in der ersten Hildburghäuser Zeit, ihm zum Geburtstag geschrieben haben soll und auf den er so hohen Werth legte, daß er „ein solches Blatt nur der schwesterlichen Treue seiner Korrespondentin anvertraute.“

Ich habe diesen Brief in der Hand gehabt. Er war wie von unbehilflicher Kindeshand geschrieben und voller Fehler. Auffällig war gleich die Anrede: „Lieber guter Ludwig!“ Diesen Taufnamen des Grafen haben wir nirgends wieder gefunden. Der Brief fährt fort: „Ich wünsche Dir zu Deinem Geburtentage viel Glück und Segen etc.“ Beachtenswerth ist der Schluß: „Ich weiß, daß meine Lage schrecklich war und ich danke Dir nochmals. Behalte mich lieb, lieber Ludwig. Ich verbleibe im Schutze Maria’s und dem Deinen! Deine arme Sophia bis ins Grab.“

Diesem deutschen Briefe widerspricht jedoch das römisch-katholische Gebetbuch der Dame, das ein französisches war: „La dévotion journalière etc.“, gedruckt 1756. Erbauungsbücher wählt man doch nur in der Muttersprache. Daher ist es höchst gewagt, die Gräfin wegen ihres guten Französisch emporzuheben. Man kommt in Gefahr, neben jenen klugen Mann gestellt zu werden, der sich so sehr darüber wunderte, daß in Paris die kleinen Kinder auf der Straße schon französisch sprechen.

Wenn aber der Graf in derselben Mittheilung sagt, daß die Dame „nur ein Mal im Jahr mit der Feder schrieb und nach ihrer vorletzten Krankheit auch dies unterließ“, so wirft dies ein böses Licht auf das geistige Leben der „armen Sophia“. Und wenn ich an das Spielzeug gedenke, das mir als von ihr benutzt auf dem Berggarten gezeigt worden ist, so kann ich nicht mehr daran zweifeln, daß ein vielleicht glücklich begabter Geist durch die Qual der entsetzlichen Einsamkeit endlich verkümmert und verkommen ist. Man bedenke nur Eines! Vergeblich habe ich früher auf dem Berggarten und jetzt wieder bei Dr. Human nachgeforscht, ob denn die Dame gar keine weibliche Bedienung gehabt habe. Niemand weiß etwas davon. Wir wissen nur, daß erst auf ihrem Sterbebette die Botin ihr als Pflegerin zugelassen wurde, und wir wissen auch, daß diese für solches Vertrauen acht Jahre lang das Schloß nicht verlassen durfte und einen gewissensschweren Tod zu erleiden hatte. Aber war es denn möglich, daß die Dame beim Anprobiren und Anziehen der vielen neuen Kleider allein fertig werden konnte? Oder bediente der Herr Graf „Allerhöchst-Sie“ auch als Kammermädchen, wie man ja weiß, daß er sie oft auf einem Rollstuhle durch alle Zimmer fuhr? Ich frage jedes Frauenherz: welche Freude konnte das eingeschlossene Weib in all der Kleiderpracht haben, wenn sie die Lust an der Beschauung und die Bewunderung der Pariser Herrlichkeiten mit keinem andern weiblichen Wesen theilen durfte? Wenn ihr nichts möglich war, als in dem neuen glänzenden Staat höchstens vor den Augen ihres „Herrn Ludwig“ durch die vielen Zimmer zu spazieren oder tief verschleiert im verhängten Wagen damit auszufahren? Mußte unter solchem Drucke nicht nach und nach der Geist, der nach Unterhaltung, nach Zeitvertreib suchte, bis zum Kindischen hinuntersinken?

Man wirft zwar ein, daß der Graf für die Dame Jahre lang die „Leipziger Modezeitung“, das „Journal des Dames“ gehalten und daß sie auch französische und deutsche Klassiker gelesen habe. Jene Zeitungen haben doch wohl nur wegen der Modebilder Interesse gehabt; für die Lektüre deutscher Klassiker bringt man ein einziges Beweismittel auf: im Nachlaß der Gräfin fand sich ein Heftchen der Groschenbibliothek, welche, damals vom Bibliographischen Institut, das 1828 von Gotha nach Hildburghausen übergesiedelt war, in Hunderttausenden von Exemplaren gedruckt und verbreitet wurde. Auch dieses Heftchen habe ich in der Hand gehabt, kann mich auf den Inhalt aber nicht mehr entsinnen und weiß nur, daß einzelne Verse mit Bleistift stark angestrichen waren. Womit will man aber beweisen, daß diese Striche von der Gräfin herrühren und daß sie das Heftchen selbst gelesen hat? Der Graf hatte acht Jahre Zeit, in das für die Dienerschaft stets verschlossen gehaltene Zimmer der Dame abzulegen, was er einst dort finden lassen wollte, wie er Manches daraus entfernte, was eben nicht dort gefunden werden sollte. Dafür gleich ein Beispiel.

Wenn es irgend Etwas gab, das einer zur Einsamkeit gezwungenen Seele in würdigster Weise Unterhaltung Trost und Erhebung bieten konnte, so war es die Musik. Wirklich erzählte der Graf, daß die Dame in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes bei ihm Klavier gespielt habe. Nach Eishausen kam ein solches Instrument nicht, dagegen weiß Kühner, daß in einem Hinterzimmer des Schlosses eine – Drehorgel stand. Dieses Instrument hat sich dann allerdings im Nachlaß der Dame nicht vorgefunden. Aber gehört hat man es doch wohl, wie man oft auch ein äußerst helles Lachen der Dame gehört haben will, das man der Lustbarkeit zuschrieb, wenn sie einige ihrer vielen Katzen in einem Kinderwagen von ihren Hunden durch die Zimmerreihen fahren ließ. Der Nachlaß bezeugte diese Freuden durch die blauen Halsbänder der Katzen mit den eingestickten Namen derselben, wie Agathe, Zemira, Lilli, Jette etc. Und wenn sie dieses Spieles satt war, so spielte die Arme mit dem vielen Geld, das ihr immer zufloß, ohne daß sie es verwenden konnte. Sie nähte sich viele Seidenbeutelchen zusammen, in welche sie alle die Friedrichsd’or, holländischen Dukaten, Kronen- und preußischen Thaler, Species und Silberkreuzer steckte und die man in allen Ecken ihres Zimmers umhergestreut fand. – Und zwischen diesen Spielereien der Verzweiflung in der trostlosen Einsamkeit – wer zählte die ernsten Stunden, von welchen diese arme Seele gemartert werden mußte, sie, die nicht einmal in der Einsamkeit der Natur ihre schwermüthigen Lieder so laut singen durfte, daß ein anderes Menschenohr sie hätte erlauschen können! –

Der Tod war endlich ihr Erlöser. Sie war am 25. November 1837, Abends zehn Uhr, gestorben, – wie man sagt, in Folge einer Erkältung, die sie sich an einem rauhen Herbsttag in dem sogenannten Garten zuzog. Der Graf hatte ihr Zeichen zur Rückkehr übersehen, und als man sie endlich suchte, war sie ohnmächtig zusammengebrochen. Trotz alledem wurde kein Arzt gerufen und noch weniger ein Geistlicher: die Arme nahm, wie Squarre und die Botin, das Geheimniß ihres Lebens mit in die Gruft. – Aber derselbe schwere Tod wartete auch auf ihn! –

Das Begräbniß der „Frau Gräfin Vavel“, wie die Todte noch in dem Bericht genannt wird, welchen vor der herzoglichen Ephorie zu Hildburghausen der Todtengräber Knoll darüber zu Protokoll gegeben, fand am 28. statt, nachdem die Eishäuser Leichenfrau drei Tage und drei Nächte bei der Todten Wache gehalten hatte. Früh vier Uhr wurde der Sarg, in welchen am Abend vorher die Leiche, ohne Anwesenheit des Grafen, gebettet worden, auf den Hildburghäuser Leichenwagen gebracht. In einem zweiten Wagen nahmen die beiden Diener des Grafen, Gebrüder Schmidt, und die Leichenfrau Platz. Sechs Träger begleiteten mit Fackeln die stille Fahrt durch Steinfeld und über den hohen Stadtberg hinüber. Sicherlich stand der nun befreite Wächter des Geheimnisses am Fenster und verfolgte mit dem Fernrohr den Zug, bis für ihn die letzte Fackel in der Nacht verschwand.

Gegen sechs Uhr kam der Zug auf der Marienstraße an der Stelle an, wo der Weg zum Berggarten hinaufführt. Hier wurde der Sarg auf eine Bahre gehoben und nun an einem mir wohlbekannten alten Holzbirnbaum vorüber hinauf ins Haus getragen. In der Halle ließ der ältere Schmidt nun den Sargdeckel aufheben, bis Alle die Leiche gesehen hatten. Dann trug man den Sarg an die Gruft – und versenkte ihn ohne einen Klang von Trauermusik, ohne einen Ton Gesang, ohne einen letzten Spruch des Segens. Nur der Todtengräber „hat ein Vaterunser gebetet und das Grab bedeckt und die Erde geordnet“. Es ist ein wohlthuendes Gefühl, daß die stille Stätte an den treuen Dienern Schmidt und seiner Frau wenigstens liebevolle Pfleger gefunden, sonst müßte man auch hier ausrufen:

„O Gott, wie muß es einsam sein
In einem solchen Grabe!“

Diesem stillen Frieden gegenüber war im Schlosse des Grafen stürmische Unruhe eingedrungen. Seine Aeußerung gegen die Dienerschaft, als die Gräfin todt war: „Was sage ich nun, sie war doch nicht meine Frau?“ – lag auch in der Antwort, die er dem Pfarramt gab, als dasselbe nur den Leichenschein und die Personalienangabe der Verstorbenen bat, und welche lautete: Man möge ihm die Namhaftmachung erlassen, die Verstorbene sei nicht seine Gemahlin gewesen, er habe sie nie dafür ausgegeben. Um so mehr fand nun das Hildburghäuser Kreis- und Stadtgericht sich verpflichtet, einzuschreiten. Dies voraussehend hatte der Graf den „seiner Gefährtin eigenthümlich gehörigen Nachlaß“ in einem Zimmer nach Südost aufspeichern lassen, wo derselbe auch verzeichnet und versiegelt wurde; er selbst ließ sich wegen seiner Abwesenheit von dieser Procedur bei der Gerichts-Deputation mit seinem Unwohlsein entschuldigen. Als aber das Gericht auf Mittheilung der Personalien der Verstorbenen drang, erklärte er: „Keine Macht der Erde soll mir mein Geheimniß entreißen; ich nehme es mit ins Grab!“ Er besteht zugleich auf unbedingte Entsiegelung des Nachlasses, weil er das „dem Andenken der Verstorbenen schuldig sei“. Endlich muß er doch den Anforderungen der Gesetze sich fügen, und so läßt er sich zu einer Angabe unter der Bedingung herab, daß sie bis nach seinem Tod geheim gehalten, namentlich zu keinem gerichtlichen Aufruf nach den Erben benutzt werde. Und worin besteht diese Angabe? Mit ihr schrumpft das große Geheimniß, schrumpft „Allerhöchst-Sie“ mit all der fürstlichen Kleider- und Schmuckpracht, Haltung und Bedienung zusammen in eine einfache: „Sophie Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westfalen, 58 Jahr alt.“ – ! –

Ob diese Enthüllung Glauben fand? Wir bezweifeln es, aber dennoch geschah die Entsiegelung, der Graf behielt den Nachlaß, zahlte den Taxwerth, der gerichtlich deponirt wurde, und Ediktalien für die Erben unterblieben aus Rücksicht auf den Wohlthäter des Landes „bis auf Weiteres“.

Die äußere Beunruhigung des Grafen hatte nun ein Ende, ob auch die innere? Man hat Anzeichen, dies zu bezweifeln. Von dem Augenblick an, wo er die als „Gräfin“ geehrte Mitbewohnerin des Schlosses für eine „ledige und bürgerliche“ Dame aus Westfalen erklärt hatte, war ein Schatten mehr auf den vom Geheimniß schon genug umdunkelten Mann gefallen und der lang unterdrückten Fama im Volke die geschwätzige Zunge gelöst. Der Graf fühlte offenbar die Nothwendigkeit, durch Annäherung an einen in den höchsten wie niedrigsten Kreisen verehrten Mann und durch Einblicke, die er demselben in seine Vergangenheit gestattete, einen Anhalt gegen den Wandel der öffentlichen Meinung zu finden. Dieser Mann war der schon genannte Obermedicinalrath Hohnbaum in Hildburghausen, dessen Urtheil wir sehr hoch zu halten haben. Er fand den alten Herrn zwar körperlich leidend, aber geistig stark, „von ungebrochener Willenskraft, bereit, das Aeußerste zur Bewahrung seines Geheimnisses zu wagen; der geistige Blick so frei und beweglich, wie der eines Mannes, der eben erst von dem dichtesten Marktgewühl des politischen und wissenschaftlichen Lebens heimkommt.“ Ich setze diese Anerkennung um so lieber hierher, als ich in die unbedingte Verherrlichung des Grafen, deren Kühner und Human sich beeifern, noch immer nicht einstimmen kann. Mit den größten geistigen Vorzügen, hoher Begabung, gründlicher Wissenschaftlichkeit, reicher Welt- und Lebenserfahrung und einer glänzenden Beredsamkeit – ist auch die Eigenschaft eines selbst zur Grausamkeit gegen Andere fähigen Egoisten vereinbar; und daß ein Mann, welcher mit so unerschütterlicher Festigkeit, wie der

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