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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Hausbesitzerin (Frau Geheime Assistenzrath Radefeld) muß sich verpflichten, alle nach dem Hof gehenden Fensterläden zu schließen, so oft die Herrschaften ausfahren wollen. Natürlich bohrte die Neugierde Gucklöcher durch diese Läden, und so sah man denn, wie der Graf im braunen Frack, der damaligen französischen Hofkouleur, und mit dem Hut in der Hand die Dame in den selbst beim herrlichsten Wetter niemals aufgeschlagenen und stets dicht verhängten Wagen führte und mit Verbeugung ihr die Hand zum Einsteigen bot. Bei Spaziergängen ist die Dame allezeit tief verschleiert. Auffällige Aufmerksamkeit widmet der Graf den Durchreisenden: ein Polizeidiener (Heun) muß ihm stets die Fremdenliste mittheilen; auch die Hausbesitzerin lädt er bisweilen ins obere Stockwerk ein, aber nur um sie über Einheimische und durchpassirende Fremde mit fast kleinlicher Neugierde auszufragen. Die „Gräfin“ war niemals bei solchen Unterhaltungen anwesend, wurde auch nie erwähnt, sollte überhaupt für Niemand vorhanden sein. Postsendungen, welche unter der Adresse „Vavel“ oder „Vavel de Versay“ zahlreich eintrafen, wurden, um das Betreten der oberen Räume durch die Briefträger zu vermeiden, von der Hausbesitzerin in Empfang genommen, in einen Korb gelegt und auf ein Klingelzeichen in die Oberwelt hinaufgezogen.

Um diese Zeit waren die drei Geheimnißvollen oft tage-, ja wochenlang abwesend. Wie Human aus „vertraulichen Notizen“ erfahren, pflogen sie damals in Gotha, Frankfurt am Main und Mainz intimen Verkehr mit sehr „distinguirten Personen der französischen Aristokratie“. Um diesem Verkehr, welcher am Schlusse des Human’schen Buches zu größter Bedeutung kommt, gleich hier näher zu treten, müssen wir auf drei Jahre vor der Ankunft der Geheimnißvollen in Hildburghausen uns zurückwenden.

Wir befinden uns zu Ingelfingen im Jagstkreise Württembergs. Das Städtchen war bis 1806 Hauptort einer Standesherrschaft und Residenz der protestantischen Linie der Fürsten von Hohenlohe, Hohenlohe-Oehringen, oft auch Hohenlohe-Ingelfingen genannt. Für unsere Geschichte ist es nicht ohne Bedeutung, daß die Gemahlin des Fürsten Ludwig Karl Friedrich von Hohenlohe-Oehringen-Wickersheim eine Tochter des Herzogs Ernst Friedrich von Sachsen-Hildburghausen (Sophie Amalie Karoline) war, und daß die Hohenlohe als eifrige Anhänger der Bourbonen galten. Hier stoßen wir auf einen Anknüpfungspunkt einer möglichen fürstlichen Empfehlung der Geheimnißvollen an den verwandten Hof.

Graf Vavel.

Es war im Jahre 1803, als bei dem Hofapotheker Rampold ein ernster Herr erschien, die obere Etage des Hauses miethete, zugleich eine Dienerin, die Jungfer Vöth, annahm und Alles, Wohnung und Lohn, auf Monate voraus bezahlte. Bald darauf fuhr derselbe Herr, jetzt als Kutscher, zur Nachtzeit einen dichtverschlossenen Wagen vor das Haus, dem ein großer Herr und eine festverschleierte Dame entstiegen, welche von jenem ehrfurchtsvoll in die bestellten Zimmer geführt wurde. Auch hier durfte die Dienerin in Anwesenheit der Dame ihr Zimmer nicht betreten, erlauschte aber oft ihr heftiges Weinen und sah sie dicht verschleiert zu den Ausfahrten die Treppe hinunter gehen. Ebenso versah auch hier der Kutscher Kammerdienerdienst, nur er durfte die Speisen in das Vorzimmer der Herrschaften tragen, und er allein war der Vermittler der letzteren mit der Außenwelt und der Hüter ihrer Ungestörtheit. Oft gingen Dame und Herr auch im Schloßgarten und im angrenzenden Kastanienwäldchen am Kocher spazieren. Endlich scheint auch hier der Herr „Graf Vavel“ geheißen und die Dame als seine Gemahlin gegolten zu haben, wie folgender Vorfall beweist. Bei einem solchen Spaziergang kam man an einen Steg, welcher über einen Bach führte. Dort, am Wasser gleich neben dem Steg, spielte ein Knabe, der Sohn des Geheimraths Kraus. Die Dame hatte den Schleier zurückgeschlagen, den Arm ihres Begleiters verlassen und schritt vorsichtig vorwärts, als sie plötzlich den Knaben erblickte, der ihr erstaunt ins Antlitz sah. Erschrocken blieb sie einen Augenblick stehen, strich den Knaben über die Locken und eilte dann, wieder sorglich verschleiert, weiter. Der Knabe aber konnte den Anblick der Dame und besonders ihre schönen großen Augen nicht vergessen, und als ihm später in einer Zeichenstunde, die er mit seiner Schwester besuchte, Bildnisse von bourbonischen Familienmitgliedern vorgelegt wurden, rief er plötzlich hocherfreut aus: „Das ist meine Gräfin Vavel!“ Unter dem Bilde standen die Worte: „Duchesse d’Angoulème“. – Auch Andere, welche die Dame in Ingelfingen gesehen, fanden eine auffallende Aehnlichkeit zwischen ihr und der Tochter Ludwig’s XVI., deren Bildniß damals viel verbreitet war.

Der Graf verkehrte oft mit einem Kreise von Männern, die sich in der Apotheke zusammenfanden, wo er häufig auch chemischen und medicinischen Studien oblag. Doch verfolgte er offenbar mit größter Gespanntheit die öffentlichen Angelegenheiten in Frankreich und Deutschland; er hatte in Mergentheim, Heilbronn und Künzelsau bei der Post verschlossene Brieftaschen, die durch Stafetten an ihn befördert wurden. Auch waren für ihn stets Postpferde bereit gestellt und alle Miethen immer um eine Woche voraus bezahlt. Eine lebhafte Korrespondenz scheint mit der Prinzessin Rohan-Rochefort in Ettenheim stattgefunden zu haben. Zwei Tage vor der officiellen Anzeige von der Verhaftung ihres Gemahls, des Herzogs von Enghien, hatte eine Stafette die Nachricht zum Grafen gebracht – und am folgenden Morgen waren die drei Geheimnißvollen verschwunden.

Einige Monate nach dieser Flucht aus Ingelfingen berichtete der „Schwäbische Merkur“, daß Graf Vavel gestorben sei. Da steigen nun wieder zwei Fragen auf: Hat der Graf selbst diese Todeskunde veranlaßt, um an einem anderen Zufluchtsorte desto sicherer zu sein? – Oder ist jener Graf Vavel wirklich gestorben, und ein anderer, mit der Vergangenheit desselben vertrauter Mann nimmt die Rolle des Geheimnißvollen in demselben Augenblick auf, wo sie dem Sterbenden aus der Hand fiel? – Letzteres führt zu einer „schauerlichen Hypothese“, welche wir später noch näher betrachten werden.

Für den Augenblick ist eine andere Bemerkung wichtiger: es ist die Frage, ob der Schutz der bourbonenfreundlichen Fürsten von Hohenlohe nicht die Geheimnißvollen nach Ingelfingen gelockt, und ob nicht die hildburghausische fürstliche Verwandtschaft den Fingerzeig zur stillen Stadt an der Werra veranlaßt hat. Die Zeit von der Flucht bis zur Fahrt nach Hildburghausen sollen sie in einem einsamen Gehöfte der Schwäbischen Alb zugebracht haben.

Da das Leben in Hildburghausen in der bereits geschilderten Weise drei Jahre ohne nennenswerthe Aenderungen fortgeführt wurde, so folgen wir unserem seltsamen Kleeblatt von Menschen sogleich nach Eishausen, wohin die Uebersiedelung am 30. September 1810 stattgefunden hatte.

Es ist ein wunderlicher Zufall, daß der Dorftheil, an dessen äußerstem Ende das Schloß stand, ebenfalls „die Neustadt“ hieß. Der Graf datirte somit seine sämmtlichen Briefe mit vollem Recht von „Neustadt“ und hatte dabei die Genugthuung, daß er, bei der erklecklichen Anzahl von deutschen Städten, Marktflecken, Dörfern, Weilern und Einzelhöfen dieses Namens, unter diesem Zeichen für alle Welt unfindbar war.

Das „Freiherrn-Schloß“ von Eishausen war ein ansehnliches Gebäude, ein dreistöckiges Rechteck aus Fachwerk mit 88 Fenstern, gewaltigen Kellern, einer hohen Steintreppe mit kunstvoll gewundenem Eisengeländer und weit hervorragenden Delphinen an den Dachrinnen. Graf und Gräfin bewohnten das zweite Stockwerk mit 10 Zimmern. Im dritten Stockwerk befand sich der Rittersaal mit schöner Stuckdecke, darüber erhob sich ein großer Doppelboden. Im unteren Stock wohnten der Kammerdiener und die Köchin. Im Miethvertrag war wohl bedungen, daß der Pächter des herzoglichen Domainenguts, zu welchem das Schloß gehörte, die Dachräume desselben zu Fruchtböden benutzen dürfte und daß der alte Schloßverwalter (Handschuh hieß er) mit seiner Frau ihre Wohnung im Schlosse behalten sollten, „um die Ruhe desselben zu überwachen“. Beide Bedingungen waren jedoch so wenig nach dem Geschmack des Grafen, daß er es sich eine höhere Miethsumme kosten ließ, um Pächter und Schloßverwalter für immer aus dem Hause zu entfernen. Und so stand denn nun das ganze Gebäude mit den mehr als 25 Zimmern der drei Stockwerke, sammt allen Kellern und Böden ganz allein den vier Menschen zu Gebote, die unter einem Willen darin lebten.

Ehe wir aber dieses Leben betrachten, wollen wir uns mit den Personen näher bekannt machen, die in und mit dem Schloß verkehrten.

Wir beginnen bei dem Haupte derselben, beim Grafen.

Dr. Human hat aus Familienpapieren, welche die holländischen Verwandten des Grafen ihm zukommen ließen, ein Lebensbild aus der Jugend desselben zusammengestellt, aus dem wir das Wesentlichste hier wiedergeben.

Was die Person des Grafen betrifft, so wird er von Allen, die ihn sahen, geschildert als ein großer hagerer Mann mit ovalem, scharfgeschnittenen Gesicht, großem blauen, hervorstehenden Auge, freier Stirn, bräunlichem Haar und Backenbart, etwas gebogener Nase, feiner Hand und stolzem entschiedenen Gang. Dieses Signalement galt natürlich für die Jahre der Kraft. Hatte man ihn in der Stadt nur im Frack beobachtet, so sah man ihn auf dem Dorf fast nur im langen, dunkeln Rock, mit Schuhen und einem hohen weißgrauen Filzhut. Nach dem Tod der Dame, bis zu welchem von den Herrschaften sich selten eines an einem Fenster zeigte, konnte man ihn stundenlang in weißer Flanelljacke und Nachtmütze am Fenster sitzen sehen, jedoch nur nach der Hofseite hin, wo er den Blicken der Neugierde weniger ausgesetzt war.

Was nun das aufgefundene Biographische betrifft, so muß ich im Voraus bemerken, daß wir dabei wieder vor einer verhängnißvollen Frage stehen: Nicht bei den vielen anderen „Briefen von fürstlichen Personen, Gelehrten, Kaufleuten und Agenten“, sondern im verschlossenen Kutschenkasten des Reisewagens fanden sich Papiere, welche über Geburt, Stand und frühere Lebensverhältnisse des Verstorbenen ziemlich helles Licht verbreiten, aber – dies Alles bezieht sich nicht auf einen Vavel de Versay, sondern auf einen Leonardus Cornelius van der Valk. Konnte das derselbe Mann sein, der 40 Jahre lang als „Vavel de Versay“ gelebt und unter diesem Namen unzählige Briefe empfangen und als solcher sich selbst unterschrieben hatte?

Die Gerichte nahmen, allerdings nicht ganz ohne Bedenken, diese Identität an, Human’s kritische Untersuchungen scheinen sie zu bestätigen, und uns bleibt vor der Hand auch weiter nichts übrig, als uns diesem Glauben geduldig zu fügen – aber „die schauerliche Hypothese“ spukt doch dabei abermals.

Das aufgefundene Taufzeugniß berichtet also, daß besagter Leonardus Cornelius van der Valk am 22. September 1769 in der katholischen Kirche zu Amsterdam durch den Priester Theodor van der Jdsert getauft worden, und daß sein Vater Adrianus van der Valk, seine Mutter aber Maria Johanna, eine geborene van Moorsel gewesen. Aus den dabeiliegenden Reisepässen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_271.jpg&oldid=- (Version vom 27.2.2024)