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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Stunden vergangen, ohne daß ich einen Ausweg gefunden hätte. Ich wußte nicht mehr, wohin ich mich wenden, ja, was ich in dieser sonderbaren Lage beginnen sollte.

Verzweifelt warf ich mich in das Moos, ein wenig zu verschnaufen. Aber schlimmer als die Müdigkeit plagte mich der Durst, und schlimmer als der Durst eine seltsame Bangigkeit, die ich mir, der ich sonst nicht furchtsam war und mich auch jetzt durchaus nicht fürchtete, gar nicht zu erklären vermochte, und die mich doch von Minute zu Minute heftiger ergriff, einer Schlange gleich, welche sich fester und fester um ihr Opfer schnürt. Ich hatte gelesen, daß so Menschen zu Muthe sei, die sich, ohne es zu wissen, in der unmittelbaren Nähe einer Leiche befinden. War hier ein Mord geschehen? Lag da in dem Gebüsch, aus dessen spärlichen Oeffnungen bereits schwarze Schatten blickten, der blutige, verstümmelte Körper?

Entsetzt sprang ich wieder auf und stürzte, nun wieder in der entgegengesetzten Richtung, davon und mußte lächeln, als ich nach wenigen hundert Schritten den Rand des Waldes erreichte, an welchem eine Landstraße hinlief, ob die, welche ich suchte, oder eine andere, wußte ich freilich nicht.

Aber ich mußte es wissen; und da, in einiger Entfernung am Wegrande im Schatten eines einzelnen Baumes, saß Jemand, den ich fragen konnte. Ein Landbriefträger, wie ich, näher kommend, sah, ein alter Mann in kurzen, bestaubten Stulpenstiefeln, der seine Tasche neben sich liegen hatte und sich mit einem rothen baumwollenen Tuch den Schweiß von der kahlen Stirn wischte. Er hatte meine Fragen gutmüthig bereitwillig beantwortet: ich war auf der Straße nach Neuenfähr – nicht der, welche ich verlassen, einer anderen, aber auf der ich nicht fehl gehen könne; habe bis Neuenfähr noch gute drei Meilen.

So hatte ich mich während der letzten zwei Stunden, anstatt mich meinem Ziel zu nähern, eine Meile von demselben entfernt.

Ich mochte wohl ein recht verdutztes Gesicht machen; der alte Mann sagte:

„Ja, es ist ein tüchtiges Ende, und Sie sehen auch nicht mehr zum frischesten aus. wo kommen Sie denn eigentlich her?“

Ich sagte es; er schüttelte den Kopf.

„Wie ist das möglich? Nonnendorf liegt ja auf einem ganz anderen Flach. Ja so, da muß ich wieder an den verdammten Brief denken, den ich nun schon seit drei Tagen mit mir durch die ganze Insel schleppe und nicht loswerden kann. Wo ist der Racker denn?“

Er kramte in seiner Tasche und brummte dabei weiter:

„Nonnendorf! Dummes Zeug! Giebt es nicht. Und wenn es auch zur Noth Bonnendorf heißen konnte, auf Nonnendorf wohnt Herr von Vogtriz und nicht ein Herr L. Lorenz, das muß ich doch wohl wissen. Da ist er. Herrn L. Lorenz auf Nonnendorf! Sehen Sie!“

Er hatte den zerknitterten Brief aus der Tasche genommen, nach welchem ich hastig griff mit dem Bedeuten, daß ich Lorenz heiße und in Nonnendorf zu Besuch gewesen sei.

Der Alte schien von dieser plötzlichen Lösung seines Räthsels nicht sehr erbaut. Er kraute sich den grauen Kopf und murmelte etwas von Briefgeheimniß und Amtseid. Ich aber hatte schon den Brief aufgerissen, der von einer schwerfälligen Hand, die ich zu kennen glaubte, fast unleserlich geschrieben war.

 „Lieber Lothar!
Es thut mir und meiner lieben Frau und auch meiner Christine sehr leid, aber wir können es nicht ändern und meine liebe Frau und auch meine Christine sagen, ich soll es Ihnen schreiben, wenn auch Ihr lieber Vater es nicht will. Lieber Lothar! Ihre liebe Mutter ist gestern ganz auf einmal und ohne einem Menschen etwas zu sagen, fortgereist und es sieht so aus, als ob sie nicht wiederkommen will, sagt meine Frau und auch meine Christine. Ihr lieber Vater sagt gar nichts, aber ich glaube, es hat ihn höllisch angegriffen und er ist sehr herunter, und meine liebe Frau und auch Christine sagen, ich soll es Ihnen schreiben, denn, sagen sie, es wird wohl nicht mehr lange währen, dann geht es zu Ende, womit ich bin Ihr Nachbar und guter Freund

H. Hopp. 

Nachschrift! Erschrecken Sie man nicht!“

„Herr Gott, Herr Gott, wie werden Sie denn auf einmal aussehen!“ rief der alte Mann, als ich den Brief aus meinen zitternden Händen fallen ließ und in halber Ohnmacht an den Stamm des Baumes zurücksank. Er hatte mir seine Flasche an den Mund gesetzt, aus der ich instinktiv gierig trank. Dann sprang ich auf die Füße.

„Gott lohne es Ihnen! Nach dieser Seite, sagten Sie?“

Er rief etwas hinter mir her, ich weiß nicht was. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich den Weg nach Neuenfähr zuruckgelegt habe. Es ist mir nur eine dunkele Erinnerung geblieben von zischelnden Kornfeldern, die endlos sind und über denen eine blendende Sonne mit seltsamer Schnelligkeit gen Westen sinkt, und von rothglühenden Wiesen; und einer Frau, die mit einem Kinde auf dem Arme vor mir steht und immerfort: armer Mensch! und dann wieder: willst du still sein! sagt, während ich aus einem irdenen Kruge trinke und vor Erschöpfung weine und das Kind jämmerlich schreit; und wieder von zischelnden Kornfeldern, über denen aber keine Sonne mehr glüht, und von Wiesen, über denen grauer Abenddunst in Streifen zieht, und von einem großen Fährboot, das mit Menschen und Pferden überfüllt ist und nicht aus der Stelle zu rücken und den Thürmen nicht näher zu kommen scheint, die vor uns gespenstisch in den schwarzgrauen Himmel ragen, über welchen ungeheure Wolken von Krähen ziehen, während hier und da ein Stern zu flimmern beginnt.

Dann stößt das Boot an die Landungsbrücke, daß es einen Krach giebt, und Weiberkreischen und Pferdestampfen und fluchende Männerstimmen – aber Alles schon hinter mir. Das dunkle Hafenthor, die Hafengasse mit den Matrosenkneipen, in denen bereits die Lichter brennen in den tiefen niederen Zimmern, aus deren offene Fenstern wüster Lärm schallt – Schuster Pahnk’s Haus, Zimmermann Schröder’s – Hopp’s – endlich des Vaters – gelobt sei Gott!

Ich will die vier Hausthürstufen mit einem Satze hinauf, und plötzlich ist meine Kraft zu Ende; ich ziehe mich mühsam an dem eisernen Geländer von Stufe zu Stufe. Die Schelle klappert, als ich die Thür aufdrücke; die alte Christel muß es nicht gehört haben; ich tappe durch den dunklen Flur nach der Thür zum Hofe. Auf dem Hofe ist es wieder etwas heller; in der Werkstatt brennt Licht, aber der Vater arbeitet nicht – wie kann er arbeiten, wenn er krank ist!

Ich stehe vor der Thür zur Werkstatt und habe den Drücker in der Hand. Aber ich drücke nicht auf. Dasselbe Grauen, das ich im Walde empfunden, will mich wieder überkommen – mit einem letzten Aufgebot meiner Kraft schüttele ich es ab und öffne die Thür.

Auf der Drehscheibe mitten in der Werkstatt steht ein fertiger Sarg; ich sehe auf den ersten Blick, daß er nicht von des Vaters Hand ist, mit dem zweiten, daß ein Todter im Sarge liegt.

Ich bin zu spät gekommen!

Ich sage es ganz laut, und es ist auch das Einzige, was ich empfinde. Keine Spur mehr von dem Grauen, das mich eben noch geschüttelt. Ich bin ja bei ihm, dem Besten, Gütigsten, der keine Todesfurcht kannte. Wie dürfte ich mich in seiner Gegenwart fürchten, obschon er nun todt ist!

Vor dem Todten, der so mild ist, so friedlich lächelt, wie ein schlafendes Kind.

So sehe ich ihn im sanften Schein der Lampe, der von oben auf seine lieben Züge fällt.

Ich küsse die lieben Züge, und dann küsse ich die Hand, die sie ihm auf die Brust gelegt haben, die liebe linke Hand, die nur vier Finger hat.

Und dann ruht meine Linke auf dieser Hand und über dem besten Herzen, und ich hebe die Rechte empor und spreche, abermals ganz laut, als ob ich zu ihm spräche:

„Nie wieder will ich Dein vergessen, Du Armer, Verlassener! Und will der Sache der Armen und Verlassenen treu bleiben, bis mein Herz still steht, wie Deines!“

Ich will am Sarge niederknieen und komme auch auf die Kniee. Dann aber saust es mir vor den Ohren; vor meinen Augen wird es Nacht; ohnmächtig sinke ich zusammen am Sarge des Vaters.

Da hat mich denn der gute Nachbar Hopp gefunden, als er eine Stunde später kam, zu sehen, ob das Oel auch wohl noch reiche für die Todtenlampe nebenan bei Nachbar Lorenz.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_248.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2024)