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kann man ohne Weiteres an den verkrümmten Knochen des Vaters, den Narben von Drüsenabscessen am Halse der Mutter, aus der nachweisbaren Tuberkulose eines der Eltern die Anlage zu Knochenleiden erklären.

Freilich bildet diese Anlage oft nur den günstigen Boden für die Knochenkrankheiten selbst. Die Blut- und Säftemischung, schon von Haus aus mit Krankheitskeimen beladen, kann unter günstigen Lebensverhältnissen gebessert werden; meist jedoch vermehren sich von Generation zu Generation die Fehler in der Zusammensetzung des Blutes durch unpassende Kost und nicht zweckmäßiges sonstiges Verhalten. Hat man daher irgend Grund anzunehmen, daß ein Kind von Geburt an gewisse Veranlagnng zu kranker Blutmischung hat, so soll man es durch beste Luft, durch gute Hautpflege, durch gesunde Wohnung, durch Verhütung und sofortige Beachtung jeder Erkrankung etc. doppelt sorgfältig bewachen. Man unterlasse jede Verweichlichung, strebe vielmehr nach einer frühzeitigen maßvollen Abhärtung. Jeder Hautausschlag, jede, auch die kleinste Drüsenschwellung, jede Empfindlichkeit und Schwäche der vielleicht äußerlich noch ganz wohlgebildeten Knochen beachte man bei Zeiten. Sie sind die ersten, scheinbar unbedeutenden Warnungszeichen, die auf eine unkorrekte Blutbeschaffenheit hinweisen, aber sie können dem aufmerksamen Elternauge nicht entgehen, und als gewissenhafter, vorsichtiger Arzt wird man sie nicht unterschätzen.

Fast noch wichtiger zur Verhütung von Knochenleiden ist die zweckmäßige Ernährung des Kindes. Nicht immer ist die Ernährung durch die Mutter oder die Amme das Richtige. Denn wenn diese nicht ganz gesund sind, so kann der Säugling mit der Milch zugleich Keime krankhafter Natur aufnehmen. Wenn eine Frau blutarm ist, in der Kindheit drüsenleidend oder knochenschwach war, wenn ihre Lunge nicht frei von verdächtigen chronischen Katarrhen ist – dann ist eine gute Kuhmilch einer zweifelhaften Frauenmilch vorzuziehen und mehr Bürgschaft für gesunde Ernährung der Knochen.

Unter tadelloser Kuhmilch versteht man heutzutage eine solche, die von gesunder Rasse, in luftigen, sauberen Stallungen bei wirklicher Trockenfütterung gewonnen wird. Nicht jede sogenannte „Kindermilch“ entspricht diesen Anforderungen, und nur solche Milchereien, die unter ärztlicher Kontrolle stehen oder thatsächlich kein nachtheiliges Futter verabreichen, sind Musteranstalten, die Vertrauen verdienen. Trockenfütterungsmilch ist theuer, aber sie ist das Beste, was es für Kinderernährung giebt, und durch ihren hohen Nährwerth doch auch das Billigste und Preiswertheste. Kein Ersatzmittel kommt ihr gleich; allenfalls die Ziegen- oder Eselinnenmilch. Aber abgesehen von natürlicher oder konservirter Milch (wozu man auch das Scherff’sche Milchpräparat und die zuckerlose kondensirte Milch zählen kann) sind alle anderen Surrogate in Gestalt von Extrakten, Mehlen für das Kind im ersten Halbjahr nicht nur von geringerem Werthe als Milch, sondern sogar im Hinblick auf das Drüsensystem und den Knochenbau oft bedenklich. – Man gewöhne sich, nur abgekochte Milch zu verwenden, man verdünne sie, dem Alter des Kindes entsprechend und je nach Vorschrift seines Arztes, anfangs mit dünnem Haferschleim oder schwachem Fenchelthee, man setze etwas Zucker, eventuell etwas doppeltkohlensaures Natron zu, halte die Flaschen, die Gummihütchen, die Mundhöhle sauber, gebe nichts von Mehlzusätzen, und man wird in der Regel etwaige Knochenkrankheiten verhüten. Vom sechsten Monat an ist etwas konsistentere Nahrung angebracht, ein Ei, eine leichte Fleischbrühsuppe mit Gries, ein Griesmus, ein aufgebrühter Zwieback, bei zartem Knochenbaue täglich ein bis zwei Opel’sche Nährzwiebacke, die durch ihren Gehalt au Nährsalzen dem Knochen Festigkeit geben. Mit Jahresschluß kann ab und zu leichtes Geflügel (Taube) gereicht werden; reiner Kakao, größere Auswahl in den Suppen sind gestattet. Aber immer muß in den ersten Lebensjahren noch gute Kuhmilch eine Hauptnahrung bilden. Kartoffeln, Krume von frischem Weiß- oder Schwarzbrot, Kuchen etc. vermeide man noch möglichst. Magen und Verdauungswege sind für das Kind im frühesten Alter der Ausgangspunkt seines Wohlbefindens oder seines Erkrankens, darüber sind erfahrene Kinderärzte nicht im Zweifel. Will man also einen normalen Knochenbau erzielen, so vergesse man nicht, daß ein solcher ohne normale Nahrung nicht gut möglich ist und daß jede Abweichung von den eben geschilderten Grundsätzen, die für den Augenblick ganz unschuldig scheint, sich später rächt.

Was schließlich die Belastung des noch weichen Knochens betrifft, so äußert sich dieselbe anfangs als Druck, wenn die Kinder stets auf demselben Arme getragen, als Zug, wenn sie immer an der gleichen Hand geführt werden. Schon hiernach sind Verbiegungen der Wirbelsäule, Schiefheit der Schulter die Folge-Erscheinungen. Der noch knorpelreiche, an Kalksalzen noch arme Röhrenknochen, die noch weichen Wirbel folgen jedem Druck. Der zarte Schädel entbehrt der Widerstandsfähigkeit. Kurz, jeder mechanische Einfluß macht sich schon bei dem erst unvollkommen verknöcherten Kinderskelet geltend. Ist dasselbe sonst gesund, so gleichen sich oft die Verbiegungen und Verkrümmungen später wieder aus, wenn die unpassende Belastung bei Zeiten nachläßt. Kinder, die man zu früh stehen und gehen ließ, können dann beim weiteren Wachsthum ihre krummen Beine noch leidlich in gerade umwandeln. Dauert jedoch die zu frühe oder ungleichmäßige Belastung zu lange, war der Knochen durch Rhachitis abnorm weich oder sonst krank, dann gleichen sich auch die Krümmungen und Knickungen nicht wieder aus, die dicken Gelenkenden bleiben dick, die Knie- und Fußgelenke schief, und in diesen Mißgestaltungen erstarrt der Knochen bei zunehmender Verknöcherung. Es geht aus dieser Betrachtung hervor, daß nicht das Aufziehen eines fetten, gemästeten, für die biegsamen Knochen zu schweren Kindes der höchste Wunsch der Mutter sein darf, sondern daß man auf gleichmäßige Ausbildung, besonders auch auf Kräftigung der Knochen sehen muß, damit diese mit Leichtigkeit den Körper tragen lernen.

Daraus folgt der weitere Schluß, daß man jeden Zwang zum frühen Stehen und Gehen, jedes schiefe Kriechen, jede beginnende krumme oder schräge Haltung in den Schuljahren bei Zeiten unterdrücken soll, ehe die Mißform fest wird. Was aber schon für das gesunde Kind gilt, muß noch mehr für das gelten, dessen Knochen schwach oder irgendwo leidend sind. Hier gilt es, rasch seinen Arzt zu Rathe zu ziehen, bleibenden Mißformen oder schwereren chronischen Krankheitsprocessen bei Zeiten vorzubeugen. Hat das Kind schon Knochen-Eiterungen, Entzündungen, Fisteln, sind seine Knochen schon aufgetrieben, seine Wirbel seitlich oder nach hinten geknickt, dann ist es für eine Heilung meist ungünstig, oft zu spät. Dann ist man zuweilen nur noch im Stande, eine Weiterverbreitung und Verschlimmerung aufzuhalten.

Es gilt also, die Augen offen zu halten und die kleinen Anfänge zu beachten, ehe bleibende Mißgestaltungen, wie krumme Beine mit verdickten Gelenken, X- oder O-Beine, Hühnerbrust, Rippen-Rosenkranz, vierschrötiger Schädel oder ein Buckel selbst dem Blödesten zeigen, daß hier etwas versehen und nicht wieder gut zu machen ist. Dann kommt man mit Bandagen, Schienen und allem sonstigen Apparat zu spät; diese sind ja sehr werthvoll bei entstehenden Leiden, können aber eben so wenig wie die besten Geradehalter und Hausschulbänke nützen, wenn der Knochen in falscher Stellung oder Form fest geworden ist.

Ueberhaupt sind alle mechanischen Hilfsmittel nur ein Nothbehelf. Kräftigung der Muskulatur, Massage und Gymnastik, Stählung der Energie und Willenskraft sind die besten und sichersten Waffen in dem Arsenal, das Erfahrung und Wissenschaft gegen Knochenleiden errichtet haben. „Kräftigen und Kraft lassen, soll das erste und letzte Erziehwort sein,“ sagt Jean Paul in „Levana“ sehr wahr und zutreffend. Die orthopädische Erziehung ist jedenfalls erfolgreicher, als die orthopädische Behandlung, so große Ergebnisse auch letztere, seit sie sich mit der Chirurgie verschwistert hat, in einzelnen Fällen aufweisen kann.

Ein schöner, kerniger Knochenbau ist für das ganze Leben eine Grundlage körperlichen Wohlbefindens, kraftvoller Besiegnng aller Schwierigkeiten, siegreichen Widerstandes. Ebenmäßig schließen sich die Muskeln und Sehnen an dies Gerüst an. Elastisch vollführen die Gelenke ihre Aufgabe. Selbstbewußt, energisch, entschieden wird das Auftreten und Handeln. Und eine Nation, die viele solche Individuen zählt, eine Nation, welche, wie Michelet es verlangt, die Knaben zu „organisirter Kraft“, die Mädchen zur „Harmonie“ erzieht, wie viel an Schönheit, an Arbeits- und Wehrkraft gewinnt sie! Im Frieden wie im Kriege stellt sie ein imponirendes, markiges Volk dar, dessen stämmige Bauern, kraftvoller Bürgerstand und hünenhafte Krieger den Wohlstand des Hauses und die Sicherheit des Landes wahren.




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