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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Wuchse erhalten, wenn Stürme es verbiegen wollen. Ist das Bäumchen zum festen Baume geworden, dann bedarf es solchen Schutzes und Haltes nicht mehr; selbst das beste Erdreich wird keine wesentliche Aenderung mehr in der Qualität des Holzes bewirken können. Aehnlich ist es mit dem ausgebildeten Skelet. Sein anatomischer Bau, sein Wachsthum, seine chemische Zusammensetzung sind abgeschlossen, seine Formen unveränderlich.

Was zu erreichen ist, kann man nur am werdenden, wachsenden Skelet erreichen – deßhalb die dringende Mahnung, möglichst früh auf der Hut zu sein und die kleinsten Abweichungen zu beachten. Ein „zu früh“ giebt es hierbei gar nicht.

Der Knochen, wie wir ihn täglich vor uns sehen können, wenn wir einen Blick in die Küche oder den Fleischerladen thun, ist (wovon wir uns bequem an jedem der Länge nach gespaltenen Röhrenknochen überzeugen können) durchaus kein gleichmäßiges Gebilde von der bekannten weißlich-gelben elfenbeinartigen Härte. Wir unterscheiden an ihm deutlich die eigentliche kompakte Knochenrinde oder Knochensubstanz, nach innen aber die Markhöhle, umsponnen von Tausenden zarter Bälkchen und Blätter. Und zwischen diesem Netzwerke, das nach außen dicht, nach innen weitmaschiger ist, finden wir das Mark eingelagert, theils als das aus Fett bestehende gelbe Mark, theils das rothe oder lymphoide Mark, die Bildungs- und Regenerationsstelle unseres Bluts mit den eigenthümlichen Markzellen (Leukoblasten), den Entwickelungsstadien rother Blutkörperchen.

Andererseits sehen wir die Gelenk-Enden, theilweise noch aus bläulich-weißem, weicherem Knorpel bestehend, gewissermaßen eine Jugendform des Knochens, die in einer Grundsubstanz (Chondrin) zahllose sich stetig durch Kerntheilung vermehrende Knorpelkörperchen enthält. Nehmen wir hierzu noch die weiche zarte Membran, die den Knochen als „Knochenhaut“ überzieht – ein für dessen Wachsthum wiederum wichtiges Gebilde – so können wir uns schon auf den ersten Blick überzeugen, daß der Knochen ein ziemlich komplicirtes Gebilde ist.

Noch mehr drängt sich uns diese Ueberzeugung auf, wenn wir Schliffe des Knochens, besonders des Röhrenknochens, unter dem Mikroskop betrachten und unsere Aufmerksamkeit der festen Knochensubstanz zuwenden. Ein wunderbarer Anblick bietet sich uns hier dar. Wir sehen die Querschnitte größerer Kanäle, welche gewissermaßen Sammelstätten der den Knochen durchziehenden Ernährungsflüssigkeit sind. Und um diese Kanäle, Jahresringen der Baumstämme gleich, zahlreiche koncentrisch geschichtete Kreise von Knochengrundsubstanz, wiederum durchzogen durch ein feinst verzweigtes Netzwerk von Kanälen, die in der Richtung von außen nach innen die ganzen Ringe durchsetzen. Wir erblicken ferner, bei passender chemischer Behandlung des Präparates, das Wesentlichste des Knochens, Knochenkörperchen, hier und da zwischen die Ringe eingelagert, Körperchen, welche in einer Kapsel die Knochenzelle (Osteoblast) enthalten und mit dem soeben erwähnten Netzwerke feiner Kanälchen in direktem Zusammenhange stehen. Man kann jetzt sehen, wie diese Knochenkörperchen, deren etwa 740 auf einem Quadratmillimeter gezählt worden sind, von dem im Knochen kreisenden Blute versorgt werden. Erinnern wir uns der außen am Knochen hier und da befindlichen Löcher, welche man, da sie die Eingangspforten für Blutgefäße sind, als „Ernährungslöcher“ bezeichnet hat, so gewinnt der Knochen nunmehr für uns den Eindruck eines in fortwährendem Zusammenhange mit dem Blutstrome befindlichen, fortdauernd durch denselben ernährten Organs. Der Knochen macht dem Laien meist nicht solchen Eindruck, etwa wie der Muskel, dessen Blutkreislauf uns augenfälliger ist. Manchem ist es befremdlich, von Blutgefäßen des Knochens zu hören. Der Knochen ist nur dann ein „todtes“ Gebilde, welches der gesunde Körper auszustoßen strebt, wenn der Blutstrom in ihm unterbrochen und er nicht mehr ernährt wird. –

Wie die Ernährungsflüssigkeit, welche den Knochen durchströmt, nämlich das Blut, beschaffen ist, so wird auch der Knochen beschaffen sein. Ein gesundes Blut muß dem Knochen nur gesunde Säfte zuführen und ihn kräftigen. Ein mit Krankheitsstoffen beladenes Blut kann nur einen kranken Knochen ausbilden, es wird und muß gerade in dem Knochen, wo es langsam kreist, mit Vorliebe solche Stoffe ablagern.

Daher die vielen Knochenkrankheiten bei fehlerhafter Blutmischung, die sofort sich ausbildende Störung seiner Entwickelung bei allgemeinen Ernährungsstörungen.

Und umgekehrt, da wir wissen, welche, eigentlich schon sprichwörtliche, Rolle das „Mark“ spielt, wie es die Bildungsstätte der rothen Blutkörperchen ist – welche enorme Wichtigkeit eines gesunden Marks entspringt daraus für den ganzen Körper! Welche herrliche normale Blutfülle muß sich aus solchem Mark für den Körper ergeben und allen Organen desselben wieder zu Gute kommen! Und wie erweisen sich die Organe des Körpers wieder dankbar, indem sie wieder nur gesundes Blut zum Knochen zurücksenden!

Um so trauriger ist das Gegenbild – krankes Mark, die Quelle kranken Blutes und allgemeinen Siechthums, Krankheitsherde im Mark mit eiterigen oder tuberkulösen Massen eine furchtbare Gefahr für den Organismus!

So tritt uns die Wechselwirkung zwischen Blutkreislauf und Knochenernährung einerseits, zwischen Mark und Blutbeschaffenheit andererseits in einer laut und eindringlich sprechenden Bedeutung entgegen. Glücklich das Kind, bei dem diese Wechselwirkung günstig und ungetrübt sich vollzieht! Wehe dem unglücklichen Geschöpf, welches durch ein entweder schwaches oder krankhaftes Blut einen ungenügend ernährten, selbst direkt von Krankheitsstoffen erfüllten Knochen erhält! Wehe ihm, wenn eine Erkrankung des Knochenmarks seine Konstitution untergräbt!

Die Thatsache, daß die meisten Knochenkrankheiten in der Kindheit vorkommen und daß wir die Knochenleiden Erwachsener sehr oft nur als Ueberbleibsel aus der Jugendzeit anzusehen haben, weist uns mit zwingender Nothwendigkeit darauf hin, dem wachsenden Knochen eine besondere Neigung zum Erkranken zuzuschreiben, gegenüber dem fertigen, ausgebildeten Knochen. Dem ist in der That so.

Ist die normale Bildung des Knochens ernstlich und anhaltend gestört, so wächst er unregelmäßig. Besonders sind es die Erkrankungen der Gelenk-Enden, welche im Kindesalter eine große Rolle spielen. Bleiben diese in ihrer Knochenumwandelung zurück, sind gleichzeitig die Knochenablagerungen unter der Knochenhaut ungenügend, so bleibt der Knochen weich. Unter der Körperlast und dem Zuge der Muskeln treten jene kolbigen Anschwellungen der Gelenk-Enden auf, jene Verbiegungen, winkligen Knickungen etc., die wir täglich auf der Straße beobachten können. Tritt bei solchen unglücklichen Kindern endlich, meist später als bei gesunden, aber um so energischer, Knochenablagerung ein, dann werden die Knochen in der Mißgestalt, die sie erhalten hatten, fest, bleibend.

Das natürliche, normale Wachsthum des Knochens vollzieht sich aber nur dann ohne Störung, wenn die Ernährung des Kindes und seiner Knochen eine normale, günstige ist. Und so schließt sich das Ende des Ringes immer wieder an dessen Anfang an.

Nun aber haben wir auf die Frage: „Wie erhält man dem Kinde einen gesunden Knochenbau?“ die dreifache Antwort:

durch Erhaltung gesunder Blutbeschaffenheit des Kindes,
durch zweckmäßige Ernährung desselben,
durch Schutz vor zu früher oder unpassender Belastung der noch weichen Knochen.

Noch ehe der Mensch das Licht der Welt erblickt, ist sein Schicksal im Hinblick auf seine körperliche Gesundheit bereits in den Grundzügen festgestellt. Eine gute Beschaffenheit des Blutes von Vater und Mutter, ein durch mehrere Generationen hinauf normaler, kräftiger Menschenschlag verbürgen auch dem Kinde gesundes Blut und damit eine gesunde Ernährung seiner Knochen. Im Gegensatze hierzu pflegen einer Ehe unter schwächlichen, blutarmen, mit Skrophulose oder Tuberkulose belasteten Individuen, aus einem körperlich herabgekommenen, verkümmerten Geschlecht auch meist blutarme, drüsen- und knochenleidende, zu Tuberkulose disponirte Kinder zu entstammen. Gesundheit und Krankheit vererben sich vom Ahn auf den Enkel. Wie eine Gabe von guter oder böser Hand wird Kraft oder Siechthum dem Neugeborenen schon in die Wiege gelegt.

Auch die Knochenleiden sind zuweilen angeboren, sei es, daß sie sich als bloße Knochenschwäche oder als Rhachitis des Skelets, speciell des Schädels äußern und soweit schon im ersten Lebensjahr sich deutlich zeigen, sei es, daß sie erst während der folgenden Jahre in Gestalt von tuberkulösen oder skrophulösen Knochenleiden sichtbar werden.

Zwar ist es in späteren Jahren schon schwerer, zu entscheiden, wie viel auf Rechnung der Vererbung, wie viel auf unzweckmäßige Aufziehung zu schreiben ist; allein in sehr vielen Fällen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_243.jpg&oldid=- (Version vom 17.11.2020)