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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

schlafend oder im Gebet. Wohl im Gebet, denn die Gestalt hob den Kopf, um nach oben zu blicken, und ließ ihn dann wieder auf die Hände sinken. Es war der Major. Ich wollte mich ungestört entfernen; aber knirschte ein Sandkorn unter meinem Fuß? hatte er sein Gebet beendet? – er richtete sich empor und kam, sich wendend, langsamen Schrittes auf mich zu, der ich nun gezwungen war zu bleiben.

Ich hatte den Major während dieser Wochen nicht so gefunden, wie ich es nach den wenigen Begegnungen mit ihm und Schlagododro’s enthusiastischen Schilderungen erwarten mußte. Er war immer freundlich und gütig gewesen, aber wenig mittheilsam bis zur völligen Schweigsamkeit, und selbst wenn er lächelte, war der Ernst nicht aus seinen schönen Augen gewichen. Daß sein Blick manchmal länger auf mir ruhte, befremdete mich jetzt nicht mehr, seitdem ich die Ursache kannte; fühlte mich aber durch diese Bevorzugung auch nicht gerade geschmeichelt, da er sich sehr selten und dann immer nur über ganz gleichgültige Dinge mit mir unterhalten hatte, und ich also annehmen konnte, daß sein Interesse an mir nur eben ein rein äußerliches sei. So war ich denn erstaunt, als er jetzt vor mir, der ich grüßend auf die Seite getreten war, stehen blieb und, mir die Hand reichend, sagte:

„Ich habe mich eben auch mit Ihnen beschäftigt. Es ist mir lieb, daß ich Sie noch einmal vor meiner Abreise ungestört sprechen kann.“

„Sie wollen abreisen, Herr Major?“ fragte ich, vergessend, daß Schlagododro es mir eben mitgetheilt hatte.

„Der Wagen wird, glaube ich, schon angespannt sein.“

„Und Sie werden nicht wiederkommen?“

„Eure Vorstellung zu sehen? Ich fürchte, ich werde darauf verzichten müssen. Vielleicht, daß ich noch einmal auf eine Stunde herüber kommen kann, aber ich glaube es kaum.“

Ich war, seiner Aufforderung folgend, ihm zur Seite geblieben. Er ging langsam, und ich bemerkte, daß er nicht den nächsten Weg zu dem Schlosse einschlug.

„Sie wissen nicht, warum ich abreise?“ hob er wieder an.

„Nein, Herr Major.“

„Ihr jungen Leute habt auch mehr in den Kopf zu nehmen, als die hohe Politik. Kümmern sich doch auch die, die es näher angeht, nur um ihre Kirchthurminteressen! Und wer weiß, ob ich die Angelegenheiten mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt hätte, wenn mir nicht – Sie erinnern sich des Abends im Werin’schen Hause, als ich die Damen hierher einzuladen kam? – Nun, an jenem Abend wurde mir vorausgesagt, was kommen würde, bereits schon zum Theil gekommen ist und, wie ich jetzt überzeugt bin, ganz kommen wird. Wir werden in Kurzem, vielleicht schon in wenigen Tagen im Kriege mit Frankreich sein.“

Im Kriege mit Frankreich! Ich schreibe es schamerröthend: das furchtbare Wort ließ mich ganz kalt. Ich hatte wohl die Herren von einer Kriegsmöglichkeit reden hören, von Kriegsbereitschaft hüben wie drüben, von Oberst Stoffel, Benedetti, französischen Kammersitzungen, spanischer Thronfolge, Kandidatur des Prinzen Hohenzollern – alles mit halbem Ohr und kaum das. Was ging es mich an?

„Es scheint, sie wollen einander mal wieder die Hälse abschneiden; nun, Glück auf!“ hatte der Kammerherr gelegentlich in seiner cynischen Weise gesagt. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen und für mich auch. Und damals hätte ich noch verhältnißmäßig die Ruhe zum Nachdenken gehabt, während jetzt meine Seele voll von ihren eigenen Angelegenheiten war und mein Herz in egoistischen Schmerzen zuckte.

Der Major erklärte sich sicher mein Schweigen aus dem Staunen und Schrecken, die mich ergrifsen hatten, denn er sagte nach einer kleinen Pause:

„Wir werden siegen – in hartem Kampf, aber wir werden siegen. Daran hätte ich freilich nun nicht gezweifelt, auch wenn die Prophetin es nicht ebenfalls verkündigt hätte.“

Ich sah den Major fragend an, indem ich den Namen der Frau von Werin murmelte.

„Ich muß sie wohl so nennen,“ sagte der Major, „unendlich viel lieber, als wie sie Andere nennen möchten, und auch ich in jenem Augenblick geneigt war. Unsere Altvordern freilich wußten das Ahnungsvermögen und die Prophetengabe ihrer weisen Frauen besser zu schätzen.“

Er lächelte ein melancholisches Lächeln:

„Ja ja,“ fuhr er fort, „die wunderbare Frau hat Alles voraus gesagt, was damals für den Verstand der Verständigsten in undurchdringliches Dunkel gehüllt war: daß sich aus der kleinen Wolke, welche bereits wieder zu zerflattern schien, der Sturm entwickeln und unserer Idylle hier ein jähes Ende bereiten würde. Die neuesten Nachrichten machen es mir unzweifelhaft. Ich gehe, mein Haus zu bestellen, noch bevor ich die Ordre habe, sicher, daß sie kommen muß, vielleicht mir schon unterwegs begegnet.“

Er schwieg, ich ging schweigend an seiner Seite, während meine Phantasie den Stoff, der ihr geboten war, zu bearbeiten anfing in ihrer schmachvoll egoistischen Weise: der Major war gefallen; Ellinor in der weiten Welt nun völlig verwaist, allein, hilflos, verzweifelt nach dem Retter ausschauend – eine Andromeda, als deren Perseus ich herbeieilte. Ein Perseus, ich, der ich mich in diesem Augenblick viel eher mit dem giftgeschwollenen Drachen hätte vergleichen sollen – dem Drachen schnöder, nachtgeborener Selbstsucht, die im Kampfe liegt mit dem Kosmos, der Welt der Ordnung und des Lichts!

Wohl mir, daß der Herrliche nichts ahnte von dem, was da Abscheuliches in meiner Seele vorging, und so in dem herzlichen Tone seiner sanften Summe weiter sprechen konnte:

„Es ist leider bald bestellt, mein Haus; ja es gäbe nichts zu bestellen, wäre es nicht um meine Tochter. Und einer Tochter Zukunft ist ja etwas, das sich jeglicher Berechnung entzieht. So berechne und rechne ich denn auch nicht, was auch sonst nicht meine Sache ist, sondern stelle es Gott anheim, der besser weiß als ich, was ihrem beweglichen Herzen frommen wird. Vielleicht, daß er sie zum Heil auf einem rauheren Pfade leiten will, als ihr beschieden schien, so lange ich lebte; vielleicht – nun, des Herrn Wille geschehe! Er weiß ja auch, weßhalb er uns Deutsche auf diesen blutigen Kriegspfad führen muß, damit wir ein einiges Volk werden, das der Welt fortan den Frieden diktiren kann, nach dem sich das Herz unseres königlichen Herrn sehnt. Großer Gott, was er leiden muß in diesen Stunden, wo er über Tod und Leben von Tausenden und aber Tausenden zu entscheiden hat und doch nichts Anderes entscheiden kann, als was ihm seine Königspflicht befiehlt, und ob sein warmes Menschenherz schier darüber breche! Brich nicht, Du armes reiches Herz! Deine Sache ist unsere! Wir stehen alle zu ihr, alle! Und wenn ich zehn Söhne hätte, Du solltest sie haben mit Gott für Dich und Vaterland!"

Glaubte er noch in der Kapelle zu sein, während er mit einem schwärmerischen Blick aufschaute zu dem hohen Dache der Rieseneichen, das sich über den langsam Dahinschreitenden wölbte? Für ihn war Gott gegenwärtig, wo er ging und stand, und sein Herz zu voll, als daß es nicht zu dem Allgegenwärtigen hätte schreien sollen in dieser schweren Stunde, in welcher er sich im Geiste vom Leben loslöste zum Siege durch den Tod. Und mich durchschauerte die Ahnung der Heiligkeit in dem Geiste und Herzen dieses Mannes; aber die Zeiten waren längst dahin, wo der Knabe gläubig zu ihm aufgeschaut hatte als zu seinem hochherrlichen Ideal. Zu tief schon hatte der Zweifel an meinem Herzen genagt und gefressen und fraß und nagte weiter und flüsterte mir höhnend zu: Jawohl, für das Vaterland, weil es einen König hat! Wär’ es Dir noch eines, Gefolgsmann Du, wenn es eine Republik wäre mit einem Plebejer an der Spitze, dem Du dann zu folgen hättest, Herr Egbert von Vogtriz?

Wieder schritten wir schweigend neben einander hin, und abermals begann er:

„Ich habe keinen Sohn mehr, und doch ist mir manchmal, wenn ich Sie ansehe, als lebte er noch, oder wäre wieder auf die Welt gekommen in Ihrer Gestalt. Ich kann mir meinen Ernst nicht anders vorstellen, stünde er, wie es ja nun der Fall wäre, in Ihrem Alter. Und so müßte er aus den Augen schauen, und so müßte der Ton seiner Stimme sein, und so könnte es ja auch in seinem Kopf und Herzen aussehen.“

Ich fühlte, wie mir die Flammen aus den Wangen schlugen. Nein, dies durfte nicht sein. War er auch mein Widersacher, er war ein edler Mann, und auch vor einem unedleren hätte ich mich der Lüge geschämt.

„Herr Major,“ rief ich, „Sie wissen nicht –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_220.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2024)