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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ich habe Sie wohl recht erschreckt? Aber ich bin nicht ganz so schuldig: die Anfälle waren in letzter Zeit weniger häufig und heftig – heute Morgen freilich! Ich habe am Ende gar gesungen, Weißfisch? Was denn?“

„Mozart und Schumann,“ erwiderte Weißfisch.

„Sie hätten es schlechter treffen können,“ fuhr der Kammerherr, sich wieder zu mir wendend, fort. „Oft singe ich nach überstandener Angst und Qual auch ganz abscheuliche Sachen: Gassenhauer und Schlimmeres. Rauchen Sie?“

Er hatte sich eine Cigarre angezündet; Weißfisch bot mir ebenfalls an. Ich dankte.

„Man muß sich dergleichen auch aufsparen, bis es einem so hundeschlecht geht, wie mir,“ sagte der Kammerherr; „sonst hat man nichts gegen die Uebel ins Feld zu führen. Aber wozu ich Sie eigentlich habe bitten lassen – Weißfisch!“

Weißfisch, der schon vorher instruirt sein mußte, legte ein Buch auf das Tischchen, von welchem er jetzt das Theegeschirr abgenommen hatte. Der Kammerherr blätterte in demselben und sagte:

„Sie kennen natürlich Goethe’s „Iphigenie“ genau – ich würde das nicht bei allen jungen Leuten Ihres Alters voraussetzen – bei Ihnen schwöre ich darauf. Wissen Sie vielleicht einiges auswendig?“

„Kleinere Stellen – Sentenzen und so – die Menge,“ sagte ich einigermaßen verwundert; „Zusammenhängendes, fürchte ich, nicht.“

„Das ist schade. Indessen würden Sie mir nicht einen rechten Gefallen thun und mir irgend etwas lesen? – gleichviel was – hier den fünften Auftritt im vierten Akt: Iphigeniens Monolog: ‚Ich muß ihm folgen, denn die Meinigen‘ –“

Er reichte mir den Band und lehnte sich in seinen Stuhl zurück mit halbgeschlossenen Augen. Ich war in großer Verlegenheit. Das Verlangen des Herrn kam mir so sonderbar vor; auch war ich nichts weniger als in der rechten Stimmung, und die Gegenwart des Kammerdieners, der in der offenen Fensterthür lehnte (mit halbgeschlossenen Augen, wie sein Herr), machte mich noch befangener. Indessen fühlte ich, daß ich dem kranken Manne trotz alledem seinen Wunsch erfüllen müsse, und begann zu lesen.

Ich hatte auf der Schale einen gewissen Ruf wegen meines Vortrages poetischer Sachen und war bei den öffentlichen Aktus von jeher unweigerlich zum Deklamator bestimmt worden. Jetzt geschah, was ich vorausgesehen hatte: ich las unaufmerksam und schlecht. Dazu kam, daß ich bei den Versen:

  „– das heilige
Mir anvertraute, viel verehrte Bild
Zu rauben und den Mann zu hintergehen,
Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke,“ –

unwillkürlich an das Medaillonbild meiner Mutter denken mußte, das ich oben im Koffer und Schlagododro vielleicht eben jetzt in Händen hatte, während der Vater es mir gewiß in der Voraussetzung anvertraut, daß ich es heilig bewahren würde. So brachte ich denn eben nur die Schlußworte des ersten großen Absatzes heraus:

  „Rettet mich
Und rettet euer Bild in meiner Seele!“ –

dann ließ ich das Buch sinken.

„Verzeihen Sie,“ sagte ich: „es geht nicht. Ich wußte es vorher.“

„Aber es ging vortrefflich,“ rief der Kammerherr. „indessen –“

Er machte Weißfisch, der noch immer regungslos mit halbgeschlossenen Augen in der Thür lehnte, einen Wink, worauf jener sich emporrichtete und aus der Thür in den Garten, zu welchem ein paar Stufen hinabführten, verschwand.

„Bitte um Entschuldigung!“ sagte der Kammerherr, „bemerkte zu spät, daß er Ihnen lästig war. Ich bin leider so an ihn gewöhnt, daß ich seine Gegenwart kaum noch merke. Aber nun lesen Sie auch weiter, oder – geben Sie einmal her! ich will Ihnen Muth machen.“

Er nahm mir das Buch aus der Hand und halb las, halb recitirte er die folgenden Verse, die zum Parzenlied hinüberleiten, und dann das wunderbare Lied selbst.

Das war denn etwas Anderes als mein mißlungener Versuch. Die Stimme blieb freilich gebrochen, wie heute Morgen beim Singen; aber, wie heute Morgen, empfand ich das nur in den ersten Momenten, dann stand ich ganz unter dem Zauber einer Vortragskunst, von der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte.

„Sie wollten mir Muth machen,“ stammelte ich, als er das Buch sinken ließ, „und nun werde ich nie wieder vorzulesen wagen.“

„Das sagt man so,“ erwiderte er lachend. „aber irrt sich sehr; besonders, wenn man wie Sie zum Schauspieler geboren ist.“

„Ich?“ rief ich, erschrocken und ergötzt zu gleicher Zeit.

„Sie!“ erwiderte er ruhig. „Wollen Sie eine Wette mit mir machen, daß Sie Schauspieler sind, bevor ein Jahr ins Land geht? Ich habe dafür einen sicheren Blick, wie sich denn das für einen alten Intendanten so schickt. Es übertrifft mich darin vielleicht nur noch Einer: Laube in Wien; aber auch er ist wiederholt an denselben Talenten achtlos vorüber gegangen, die ich als solche sofort erkannte. Oder hätten Sie etwas gegen den Schauspielerstand?“

„Nein,“ rief ich; „wie käme ich dazu?“

„Nun,“ erwiderte er, „man erzählte gestern, daß Sie einen sehr würdigen Mann, einen Handwerker, wenn ich nicht irre, zum Stiefvater und eine überaus fromme Dame – eine Katholikin, nicht? – zur Mutter haben. Dabei könnte doch leicht ein Vorurtheil gegen das leichtlebige Völkchen der Komödianten für Sie abgefallen sein.“

„Es giebt keinen Menschen, der freier dächte und vorurtheilsloser wäre, als mein Vater,“ sagte ich eifrig.

„Aber Ihre Frau Mutter?“

„Ich habe nie über solche Dinge ein Wort mit ihr gesprochen,“ erwiderte ich ausweichend.

„Nun,“ sagte er, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und feine Wölkchen aus seiner Cigarre blasend; „die frommen Leute haben ja auch so Unrecht nicht, wenn sie sich vor einer Sippe bekreuzigen, die in ihren Augen der Teufel mit Haut und Haaren hat, und selbst dem ruhigen Bürger kann man es nicht verdenken, wenn er um die geschminkte Gesllschaft in einem scheuen Bogen herumgeht. Sie sind einmal nicht wie andere Menschen, können es nicht sein. Das Metier will es so. Der richtige Schauspieler – es giebt nämlich viele unrichtige, und ihre Zahl nimmt in erschreckender Weise zu – ist heutigen Tages noch genau so, wie sie Goethe im Wilhelm Meister geschildert hat. Er kannte den Rummel. Jarno lacht einmal, als der gute Wilhelm sich in seiner pedantischen Weise die Flanken peitscht, um den Schauspieler abzukonterfeien, und dabei nichts herauskommt, als ein Bild des Menschen, in welchem nur so ziemlich sämmtliche Fehler und vielleicht auch ein paar Tugenden gröblich übertrieben sind, also auf deutsch eine Karikatur des Menschen. Aber ist nicht das Kind auch eine Karikatur des Erwachsenen? vorausgesetzt, daß man in dem Erwachsenen nicht eine Karikatur des Kindes sehen will, wogegen ich meinestheils nichts einzuwenden haben würde. Jedenfalls: will man wissen, wie die Menschen sind, muß man Kinder und Schauspieler studiren. Schauspieler sind nur physisch groß gewordene Kinder; psychisch sind sie geblieben, was sie waren: wetterwendisch, rechthaberisch, zanksüchtig, neidisch, eitel, egoistisch, durch und durch sinnlich, verlogen, zu jeder ordentlichen Arbeit untüchtig, keine oder höchstens ihre sogenannte Arbeit ernsthaft nehmend, was nicht viel sagen will und jedenfalls die Parallele zwischen ihnen und den Kindern nicht stört, denn nehmen die nicht auch ihre Kindereien mit einem für die Erwachsenen lächerlichen Ernst? Ich sage, die Sippe muß so sein – jeder, sonst behagt ihm die Puder- und Gasatmosphäre der Bühne nicht, so wenig wie uns Erwachsenen die säuerliche Kinderstubenluft. Und behagt ihm nicht bloß nicht: er kann sie auch nicht vertragen, wird elend, verfällt in die aberwitzigsten Krankheiten, eklipsirt sich schleunigst, wenn er noch so viel Besinnung hat, oder verkommt, wird verrückt oder geht sonst unter, wenn ihm die gesunde Reaktionskraft mangelt. Wie Viele habe ich so verkommen und untergehen sehen! Noch gestern Abend bin ich durch Weißfisch – Sie erinnern sich – an ein recht eklatantes Beispiel erinnert worden: eine junge Sängerin, die auch einmal die Iphigenie

tragirte. Sie kam an meine Bühne direkt aus Kalifornien, eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_186.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2024)