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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


9.

Als ich in die Werkstatt trat, legte der Vater eben die blaugrüne Schürze ab. Er sei gerade mit seiner Arbeit für heute fertig, und nun wollten wir behaglich mit einander plaudern.

Es war eine Stunde erquicklichen Beisammenseins, in der ich jeden Augenblick dem Himmel dankte, daß ich den Versucher so kräftig von mir gewiesen. Zwar, wenn ich dem Guten in die treuen Augen sah, erschien mir, was ich gethan, so selbstverständlich, wie das Gegentheil schändlichster Verrath gewesen wäre. Dennoch war ich zufrieden mit mir und würde meinen Triumph voll genossen haben, nur, daß der Leidenszug in dem Gesichte des Vaters heute Abend ausgeprägter war, als selbst die Tage vorher, wo er hatte zugeben müssen, daß er sich schlecht befunden habe, während er heute behauptete, es gehe ihm wieder völlig gut. Und plötzlich fiel mir das Wort des Kaplans von dem sorgenfreien Abend, der, wenn ich mich folgsam erwies, dem Vater bereitet werden sollte, schwer auf die Seele. War das nicht schon ein Gewinn, um dessentwillen ich den Handel hätte eingehen müssen? Ich hatte freilich immer angenommen, daß, für den Vater zu sorgen, meine Aufgabe sein werde, und gelobte mir jetzt wieder im Stillen, meine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen; aber ich hatte nicht bedacht, daß die Nothwendigkeit der Hilfe so früh an mich herantreten könne. Und doch mußte ich mir wieder sagen, daß meine Selbstvorwürfe ganz thöricht seien. Ich wußte, der Vater hatte vom ersten Augenblicke an sich in ökonomischen Dingen der Mutter gegenüber die volle Selbständigkeit bewahrt; würde er jetzt zu der Kränkung, vollends von ihr verlassen zu werden, noch die Schmach einer Pension hinzunehmen? Niemals! so wenig wie ihn irgend eine Summe dafür entschädigen konnte, daß ich ihn verließ. Ach, er war heute Abend so gut und lieb, kam wieder auf seine Jugend zu sprechen und das herrliche Leben „oben auf dem Walde“, wo zu Häupten die Riesentannen feierlich rauschten und durch die Stämme hier und da ferne blaue Berge still herüber grüßten. Das, müsse er sagen, möchte er wohl noch einmal sehen mit mir zur Seite, mir des Waldes Heimlichkeiten zu offenbaren; denn wenn er es auch sonst auf Erden zu nichts gebracht und Zeit seines Lebens ein unpraktischer Phantast gewesen sei und jetzt anfange ein stumpfer alter Kerl zu werden – dem Walde habe er ins Herz gesehen, wie wohl so leicht Keiner, und wenn er einmal sterbe, ein Stück von der Seele des Waldes sterbe mit ihm – das glaube er sicherlich.

So ging seine Rede, und ich hätte immer nur so zuhören mögen; denn es war die reinste, heiligste Poesie, was da in den schlichtesten Worten, die ihm unbewußt kamen, aus seinem Munde floß – dem Bergquell gleich, der, sein unschuldig Lied singend, unerschöpflich zu Thal rinnt – aber es wurde spät, und er hatte mir gesagt, daß er morgen sehr früh wieder an die Arbeit müsse. So gab ich denn vor, ich selbst sei müde und müsse mich stärken für den folgenden Tag.

Eine Wolke zog über seine Stirn, aber gleich lächelte er mich wieder freundlich an.

„Wir werden uns nun lange Zeit nicht sehen,“ sagte er, „und ich leugne nicht, ich werde Dich wohl ein wenig vermissen. Der Tod ist Trennung, aber die Trennung, so lange wir leben, ist auch so eine Art Tod.“

Ich erschrak. Trennung! ich hatte das Wort eben gehört aus dem verhaßten Munde des Pfaffen, mußte ich es nun auch aus dem Munde des geliebten Vaters hören?

„Wenn Du so sprichst, Vater,“ rief ich, „so bleibe ich sicher hier.“

„Wenn ich wie spreche?“ erwiderte er; „vom Tode? warum soll man von dem nicht sprechen, wie von dem morgenden Tage? Beide kommen gewiß, nur daß der morgende Tag vielleicht für uns nicht kommt, der Tod aber irgend einmal sicher. Ich verstehe freilich, warum die Jugend vom Tode nichts hören und wissen will; sie hat ja auch naturgemäß nichts mit ihm zu schaffen, außer wenn sie uns Alte zu Grabe geleitet, wobei Ihr denn meistens ein Gesicht macht, wie die Kinder, denen das Kartenhaus einfällt. Die Alten, die herum saßen, wußten ja, daß es einfallen würde, und warteten nur auf den Augenblick. Ich warte nicht auf den Augenblick, aber ich habe auch durchaus nichts gegen den Tod, außer daß wir nicht verlöschen können wie ein Licht, oder zerrinnen wie der Tropfen im Wasser, oder schmerzlos still zu Erde werden wie der umgesunkene Baum im Walde. Nun so bequem ward es uns Menschen nicht; aber das Ende vom Liede ist es doch, und ich sage, es ist ein schönes Lied, das der Wind durch den rauschenden Wald und die Welle am hallenden Ufer singt, und in dem wir mitsingen werden, ein Stimmchen im großen Chore, durch alle Ewigkeit. Glaubst Du nicht, Kind, daß es dieselbe Musik ist, die der Malle Heinrich hört des Morgens, wenn die Sonne auf- und wenn sie am Abend zur Rüste geht? Gehört hat – der arme Kerl! Er war heut hier in der Dämmerstunde und suchte Dich, ob Du nicht wüßtest, wo die schöne Musik geblieben sei? er höre sie nicht mehr; ob sie wohl gestorben sein könne? dann solle ich ihr doch einen Sarg machen, einen recht schönen Sarg! Seltsam, ihm ist die Musik gestorben, mir sind es meine Bilder: ich sehe keine mehr, und meine Särge gehen leer zu Grabe. Aber Du bist wirklich müde, Kind; Deine Augen sind trüb. Laß uns zu Bett!“

Wohl mochten meine Augen trüb sein, aber nicht vor Müdigkeit. Auch konnte ich die Thränen nicht länger zurückhalten, als er mir jetzt zur Gutenacht die Hand bot. Er sah mich erstaunt an.

„Kind, was weinst Du?“ sagte er. „Und mir ist so recht heiter und fröhlich zu Sinn! Geht Ihr jungen Leute heutzutage so auf die Reise? Wart’, ich will Dir etwas mitgeben, das Dir Freude machen wird. Ich wollt’ es Dir eigentlich erst bei der großen Trennung geben. Nun mag’s auch bei der kleinen sein.“

Er verschwand in der Kammer„ wo ich ihn an seinem Pulte kramen hörte. Ein Schrecken überfiel mich. Sollte es das sein?

Er kam zurück, setzte die Lampe wieder auf den Tisch; es war, wie ich geahnt hatte: in der anderen Hand hatte er das Etui, welches das Bild meiner Mutter enthielt.

„Nimm es, Kind!“ sagte er; „ich sehe keine Bilder mehr und brauche keine mehr.“

Ich wollte erwidern: und dies Bild brauche ich nicht und ich will es nicht. Aber hatte ich mich darum in dieser Stunde so brav gehalten und die Empörung, welche noch in meiner Seele von der Scene mit dem Pfaffen zitterte, mit keinem Worte anklingen lassen, um nun zuletzt mich dennoch zu verrathen und das Herz des besten Mannes, dem „so recht heiter zu Sinn war“, aufs Tiefste zu betrüben? Das durfte ich nicht und stammelte meinen Dank, indem ich das Etui, ohne es zu öffnen, in die Tasche gleiten ließ. Er ahnte nicht, weßhalb ich mich so stürmisch jetzt in seine Arme warf und ihn küßte. „Ich hab’ es Dir ja gern gegeben,“ sagte er. „Und nun zum letzten Male: gute Nacht, Kind!“

Ich war wieder auf meinem Zimmer, rathlos, wo ich mit dem Etui bleiben sollte, wie man nicht weiß, wohin mit einer glühenden Kohle, ohne sicheren Schaden anzurichten. Und wenn ich es schließlich doch in meinen Koffer legte, so war es nicht, weil ich der Sicherheit meines Schreibtischschlosses nicht traute, sondern weil ich – nun ja! – weil ich mich nicht von ihm trennen wollte; weil mich sein Besitz mit einer schaudernden, aus Liebe und Haß seltsam gemischten Bewegung erfüllte. Ich aber redete mir ein, ich wolle es nur Maria zeigen, die wiederholt den lebhaften Wunsch ausgesprochen hatte, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch im Abbild meine Mutter zu sehen; und die, wenn sie dies Bild sähe, bestätigen würde, was sie mir unlängst gesagt: hasse die Pfaffen, die sie Dir geraubt; Deine Mutter darfst Du nicht hassen!

Und so beweglich ist der Jugend Sinn: während noch, was ich eben Empörendes und Rührendes erlebt, in meiner erregten Seele nachzitterte, dachte ich bereits auch an das Morgen: an Maria und Schlagododro und die Abenteuer, die mir unzweifelhaft bevorstanden auf der geheimnißvollen Insel, welche ich mir als mein Königreich ausdrücklich vorbehielt, wenn ich von der Bodenluke des Nachbargiebelhauses beim Seifeblasen die Welt zwischen mir und Emil Israel theilte, und die, trotzdem sie nur durch eine schmale Wasserstraße von uns getrennt war, mein Fuß noch nie betreten hatte.


Drittes Buch.
1.

Ein leichter Holsteiner Wagen mit zwei kräftigen Braunen, auf dem Vorderplatz ein junger Kutscher (für gewöhnlich Knecht, und nur „ad hoc“ durch einen Livréerock zum Kutscher gemacht.); auf dem Rücksitze zwei junge Bursche, welche die Schule hinter

sich und die endlosen Ferien vor sich haben und von denen ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_154.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)