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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Gar nichts!“ rief sie stolz. „Ich wiederhole Dir, ich werde Dir nie zur Last fallen, lieber ginge ich zu Hans nach Amerika. Aber höre doch auf, ich bin nicht im mindesten verzweifelt.“ Und sie zündete Licht an, ging ins Schlafzimmer und begann ihre Nachttoilette zu machen.

Ich blieb allein in der finsteren Stube. Unaufhörlich ging es mir durch den Kopf: Und was nun? – Nach Berlin zurück! Lotte mußte Unterkunft finden im Hause ihres Vormunds, und ich – ach, für mich war ich ja nicht besorgt! Und endlich versank der rastlose Wirbel der Gedanken in eine nicht zu bewältigende Müdigkeit; ich tastete mich durch den finsteren Raum und warf mich angekleidet auf das Bett.


Mit schweren Gliedern und schmerzendem Kopf erwachte ich am andern Morgen, und wie mit Centnergewichten fiel die Gegenwart auf mein Herz.

Ich richtete mich empor, ein wunderbarer blaugoldener Schimmer drängte sich durch die Vorhänge. Lotte hatte schon ihr Lager verlassen; im Nebenzimmer hörte ich leise sprechen und erkannte Anita’s Stimme. Es kam mir vor, als habe sie einen gewissen demüthigen Tonfall, den ich früher nicht bemerkte. Als ich nach einer Weile in das Wohnzimmer trat, stand Lotte fertig angekleidet vor ihrem Schreibtisch und betrachtete wie verlegen ihre schmale weiße Hand. Sie kam mir nicht entgegen, sie nickte nur stumm mit dem Kopfe. Anita war verschwunden.

O, diese erdrückende Stille und Schwüle in dem Zimmer, trotz der kühlen Morgenluft! Neben Lotte’s Theetasse lag ein Strauß stark duftender Orangeblüthen; sie machten meinen Kopfschmerz nur noch weher.

Der Vormittag ging stumm vorüber; ich hatte keinerlei Energie mich empor zu raffen. Lotte schrieb; ich dachte nicht darüber nach, an Wen? Im Nebenzimmer hörte ich dann schwere Tritte und Flüstern – der Sarg ward gebracht. Ich hatte nicht das Herz, das stille Antlitz noch einmal zu sehen.

Und derweil begann schon der Sturm durch die Welt zu brausen, der herrliche, der furchtbare Sturm. Auf den Gassen standen die Menschen beisammen und sprachen von „Kriegserklärung“, die stündlich kommen müsse. Von Haus zu Haus, von Herz zu Herz flog der eine Gedanke: „Der alte Feind! Auf, gegen ihn mit Gut und Blut, mit Allem was wir haben!“ Keiner, Keiner dachte noch an eignen Kummer, als hätten die Hunderttausende deutscher Herzen nur einen Schlag, den für des Vaterlandes Ehre! – Ach, wer da so unsichtbar hätte wandern können durch Deutschlands Städte und Dörfer, hinein blicken in Haus und Hütte, wie viel edle Begeisterung, wie viel freudigen Opfermuth, wie viel Hochherzigkeit und Selbstverleugnung hätte er zu schauen bekommen! Und nur ich saß da und konnte mich nicht fassen!

Krieg! Wirklich Krieg! Das heißt doch – Thränen und Leid, und Leid und Thränen? Als ob es noch nicht genug des Jammers! Das war Alles, was ich zu denken vermochte.

Und der Tag verging und ein zweiter brach an, der Begräbnißtag. Gegen elf Uhr brachte man den Sarg das Treppchen hinunter; er mußte durch den Domainengarten getragen werden, am Thore des Gutshofes wartete der Leichenwagen. Ich habe nichts von Allem gesehen und gehört, denn ich saß an dem einzigen Orte, wo ich ungestört verweilen konnte, in der kleinen Küche, nach dem stillen Garten hinaus. Nur das Geläut der Glocken, das die alte gute Frau zum Kirchhof begleitete, scholl in mein Ohr.

Und mitten hinein in dieses Friedensgeläut tönte der Ruf: „Zu den Waffen! der Krieg ist erklärt, die Einberufungsordre da!“

Ich wußte es nicht, da stürzte Lotte in mein Zimmer. – Der vom Begräbniß heimkehrende Prediger hatte die Nachricht mitgebracht. Sie war blaß, sie rang die Hände, sie zitterte an allen Gliedern. Es war, als ob ihr Anblick mich gewaltsam emporrüttelte.

„Tone, das ist furchtbar!“ stammelte sie.

Ich folgte ihr in das Vorderzimmer, wo der Geistliche noch stand. Von der Straße her schallten Rufe und ungewohnter Lärm. „Ihre Trauer wird milder werden in dem großen allgemeinen Leid,“ sagte der alte Mann, „helfen auch Sie mit tragen; Gemeinsamkeit giebt vielen Trost, viel Freudigkeit.“

Als er gegangen, trat ich zu Lotte, und einen Augenblick hielten wir uns fest umschlungen; ich fühlte ihr klopfendes Herz an dem meinen und hörte ihre bangen schluchzenden Athemzüge.

„Es ist furchtbar!“ flüsterte sie. „Ich glaubte noch immer, der Sturm ziehe vorüber.“

„Aengstige Dich nicht, Lotte, wir sind ja beisammen, wir haben uns!“ Nun sie zitterte, kam mir der alte Muth wieder.

„Wir sind ja Soldatenkinder, Lotte,“ fügte ich noch hinzu und gab sie frei aus meinen Armen, „und wir haben Beide leider Keinen, der da mit hinausziehen darf. – Wenn der Vater noch lebte, wenn Hans noch hier –“

Aber sie achtete meiner Worte nicht; sie lief nach der Thür, und dort blieb sie stehen, die Hände an die Schläfen gepreßt; und dann kam sie wieder ans Fenster. Sie stand offenbar unter dem Banne einer furchtbaren Gemüthsbewegung.

Dann stürmte es draußen die Treppe empor und ohne anzuklopfen ins Zinimer; Anita war es, athemlos. Ihre Augen suchten Lotte, und Beider Blicke trafen sich; es war, als ob sie Beide sprechen wollten und meine Gegenwart ihnen die Lippen schloß.

„Sie wissen es schon,“ begann endlich die Italienerin verlegen, „der Krieg – auch Se. Durchlaucht reisen morgen schon.“ Ich sah Lotte’s Antlitz nicht, sie hatte sich abgewandt; aber mir ward es mit einem Male leichter ums Herz, und still ging ich aus dem Zimmer. Wenn wirklich der lustige Prinz ein Tendre für Lotte gefaßt, so brach dieses Kriegsgewitter segensreich in den schwülen Liebestraum hinein. Ich wunderte mich, als ich Anita sofort nach mir das Wohnzimmer verlassen hörte und sie mit Windeseile durch den Gartenweg fliegen sah. Und als ich sogleich zu Lotte zurückkehrte, fand ich sie mitten in der Stube, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

„Was ist Dir, Lotte?“

Da sanken ihre Arme herunter; ich sah Thränen in ihren Angen, und seltsam zuckte es um ihren Mund, wie, glückliches Lächeln, und doch schmerzverzogen.

Genau weiß ich nicht mehr, wie es in den nächsten Stunden ward; bei großen Ereignissen ist der Sinn wie trunken. Ich dachte nicht mehr an unsere bange Zukunft, was galt des Einzelnen Sorge noch? Die alte Aufwartefrau, die uns das lauwarme Mittagessen aus dem Speisehause brachte, hatte drei Söhne, die „mitmußten“, und der Aelteste besaß schon Weib und Kind und Geschäft. Aber die Alte klagte nicht.

Sie setzte die Schüsseln auf den Tisch und sagte: „Herr Roden hat eben die Leute auf dem Hofe versammelt und ihnen eine Rede gehalten. Er muß auch mit,“ setzte sie hinzu und heftete einen Blick auf Lotte, der nicht allzu freundlich war; „und Niemand kann wissen, wer wiederkommt!“

Ach, Er! Ich hatte seiner noch nicht gedacht heute, und ich sah Lotte an bei diesen letzten Worten, ob ihr das Herz nicht schlug in Reue, ob sie ihn lassen würde, ohne ein Wort, ohne eine Bitte um Verzeihung. Aber Lotte hatte gar nicht zugehört. Den Kopf auf die Hand gestützt, rührte sie das Essen nicht an. Draußen auf der Gasse lärmten die Jungen aus der Nachbarschaft und spielten Krieg mit den Franzosen; in unserem Zimmer war es desto stiller; ich saß dann am Fenster, Lotte am Schreibtisch. Sie kraulte hastig in den Kästen herum, zerriß Briefe und band andere zusammen, – ich begriff ihr Thun nicht. Ein paarmal that ich den Mund auf, um ruhig mit ihr noch einmal über Fritz Roden zu sprechen, aber ich wußte nicht, wie beginnen. Ein paarmal wandte sie sich, als wollte sie reden, einmal trat sie sogar dicht zu mir heran, aber auch sie schwieg; in jähem Wechsel kam und ging die Farbe auf ihren Waugen. Sie warf keinen Blick nach den Fenstern drüben, obgleich von Zeit zu Zeit der Prinz dort sichtbar wurde.

„Ich ersticke hier fast,“ sagte sie endlich, „ich wünschte, es wäre Abend.“

Als es dämmerte, erhob ich mich und fragte sie, ob sie mich auf den Kirchhof begleiten wolle.

„Morgen! Morgen!“ erwiderte sie, „heute laß mich; ich werde ein wenig im Garten auf- und abgehen.“ Und als ich zur Thür hinausschritt, kam sie mir hastig nach. „Tone!“

Wieder war es, als wollte sie sprechen, aber sie brachte weiter nichts heraus als: „Wenn Du dort betest, vergiß mich nicht! – Wann kommst Du zurück?“

„Ich weiß es nicht, Lotte – bald.“

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