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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 8.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen
(Fortsetzung.)


6.

„Nun, da finde ich Euch ja schon beisammen,“ sagte Adalbert, indem er mir zunickte und seiner Schwester über das dunkle wellige Haar strich: „habt Ihr Euch gut vertragen?“

„Vortrefflich!“ rief ich.

„Ich wußte es voraus, ‚denn: wo das Strenge mit dem Zarten –‘ das Zarte ist natürlich meine sanfte Maria, bei Leibe nicht Du.“

Er war an den Arbeitstisch getreten und hatte einen Blick auf die Schreibereien geworfen.

„Das ist nun schon der fünfte Bogen,“ murmelte er, „und doch wollte ich, sie brächte es auf fünfzig oder fünfhundert. – Wo ist die Mama ?“

Frau von Werin trat bei diesen Worten wieder herein, und Maria ging an ihrer Stelle hinaus; sie kam zu uns an das Fenster, einen Stuhl, den ich ihr bot, ablehnend.

„Ich habe den ganzen Tag gesessen,“ sagte sie; „ich stehe gern ein wenig. Ich fange so an, korpulent zu werden.“

Es war nicht der Fall, wie ich mich, sie jetzt zum ersten Mal aufmerksam betrachtend, überzeugte: eine hagere, magere Gestalt, wenig über Mittelgröße, mit einem kleinen Kopfe, der von sehr krausem und bereits stark ergrautem Haar bedeckt war, wie mit einer künstlichen Lockenfrisur. Das gab ihr ein fast noch jugendliches Aussehen, wie sie sich denn auch mit großer Lebhaftigkeit und Entschiedenheit bewegte und ebenso sprach. Ihr Gesicht konnte ich bei der hereinbrechenden Dunkelheit im Einzelnen nicht mehr erkennen; doch ähnelten ihr wohl ihre Kinder, so daß sie mir, alles in allem, nicht sowohl als die Mutter, sondern mehr als ein älteres Geschwister derselben erschien.

Auch sie mochte mich wohl zum ersten Male genauer ins Auge gefaßt haben.

„Sie sind jünger als mein Sohn,“ sagte sie.

„Zwei Jahre, Mama,“ erwiderte Adalbert statt meiner.

„Es ist nicht seine Schuld,“ fuhr sie zu mir gewendet fort. „Wir alle sind von einem und demselben Streiche zu Boden geschlagen worden und haben Zeit gebraucht, bis wir uns darauf besinnen konnten, daß es doch noch eine Gerechtigkeit auf Erden geben müsse.“

„Ich glaube, wir können zu Tisch gehen, Mama,“ sagte Adalbert, indem er zugleich aufzustehen versuchte, was aber nicht gelang, da seine Mutter ihre Hand nur noch fester auf seine Schulter drückte und in demselben Tone fortfuhr:

„Freilich ist die Gerechtigkeit auf Erden übel dran: sie findet so wenig würdige Vertreter. Aus einem einfachen Grunde: sie ist eben weitaus die

Jacob Grimm.   Wilhelm Grimm.
Nach den Portraits aus dem Jahrgang 1858 der „Gartenlaube“.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_133.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2024)