Seite:Die Gartenlaube (1886) 126.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

sächsischen Grenze drei Meilen vom Schlachtfelde lag, mit großer Deutlichkeit gehört habe. Sie war dabei sehr erregt und sah um Jahre jünger aus. „Wir erleben gewiß noch einmal ein Leipzig!“ schloß sie dann gewöhnlich.

„Gott sei Dank, wir sind im tiefsten Frieden,“ flüsterte ich und dachte an die Angst, die ich Sechsundsechzig um den Hans ausgestanden. Was kümmerte mich auch Napoleon und Luxemburg und die spanische Thronfolge? Hier in nächster Nähe ward ja ein Kampf gekämpft, schwer und heiß, Glück und Frieden vernichtend.

„Rufe Fritz,“ bat Lotte zuweilen und ging mit fiebernden Wangen von einer Stube in die andere; und die alte Ausgeherin trabte nach der Domaine, und bald eilte er durch die grünen Wege des Gartens mit sorgenvollem Gesicht herbei. Und wenn sie ihn kommen sah, packte es sie wie Angst; sie lief hastig in das Schlafzimmer und war nur mit Mühe zu bewegen, den Gerufenen zu empfangen. Es ward immer eine peinlich stumme Scene, und er ging, wie er gekommen, bedrückt, geängstigt.

Auf die Absage zum Balle erschien Anita bei uns. Der Prinz ließ fragen, ob er Frau von Werthern seine Aufwartung machen dürfe? Die alte Dame gerieth förmlich in Ekstase über diese Liebenswürdigkeit und bestellte der lächelnden Anita, daß es ihr eine Ehre sein würde, Durchlaucht bei sich zu sehen.

Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr kam er wirklich das schmale Treppchen herauf und saß in unserem Zimmer respektvoll der Großmama gegenüber. Lotte war nicht sichtbar. Die blitzenden Augen forschten einen Moment enttäuscht in allen Winkeln umher, dann plauderte er heiter von allerlei harmlosen Sachen, von seiner Mutter, von einem Aufenthalt in Baden-Baden, einer Reise nach dem Orient, die er vor einigen Jahren unternommen, und schließlich kam er auf Rotenberg, auf seinen Ball, und just in diesem Augenblick trat Lotte ein. Ich sah sie befremdet an. Sie hatte in aller Eile ein weißes Sommerkleid angelegt; ihre langen schwarzen Zöpfe hingen auf dem Rücken herunter, und ihr Gesicht war farblos wie das Gewand.

Prinz Otto sprang empor, wie elektrisirt. „Wir sprachen eben von dem kleinen Fest; Sie müssen kommen, Fräulein von Werthern!“

„Ich bedaure lebhaft, Durchlaucht. Sie wissen. wir trauern noch um den Vater,“ erwiderte sie lächelnd.

„Dann will ich den Tanz absagen lassen!“ rief er.

„O niemals, Durchlaucht!“ stotterte sie erröthend. „Ich bitte, mich zu entschuldigen.“

Er schwieg und empfahl sich. Am Abend aber flogen Briefe durch das Städtchen, worin das Fest, einer Reise wegen, die der Prinz unternehmen müsse, abgesagt war. Auch wir erhielten das Billet. Schweigend starrte Lotte darauf. – „Gott sei Dank, er reist!“ fuhr es mir durch den Sinn. Aber er dachte nicht daran! Er saß am Tage des aufgegebenen Balles am geöffneten Fenster des gelben Zimmers und las.

Anita aber kam über die Straße herüber und wollte Fräulein Lotte sprechen. „Ich bringe Farben, die das gnädige Fräulein vergaß,“ sagte sie mir und schlüpfte zu Lotte auf den Balkon.

Mir zuckte es in den Füßen, ihr nachzugehen, indeß – ich fürchtete Lottes Augen, die so deutlich zu sagen verstanden: „Was willst Du hier?“ Als ich endlich zu ihnen trat, plauderten sie von Italien und allerhand gleichgültigen Dingen, und die Farbentuben lagen auf dem Tische.

„Weißt Du, Tone,“ sagte Lotte, „ich will italienisch lernen; Anita giebt mir Unterricht, wir verabredeten es neulich schon mit einander. Es ist eine so himmlische Sprache!“

Ich sah das Mädchen überrascht an, aber ich fand keinen triftigen Grund für meinen Widerwillen. „Ja, wenn Du meinst, Lotte! freilich, nöthig –“

„Nein, nöthig ist es nicht!“ fuhr sie gereizt empor. „Nöthig ist es auch nicht, daß man malt und liest! Alles dergleichen ist überflüssig, so meinst Du doch? Die Kunst, die Schönheit, die Poesie – nöthig nicht! O, das schreckliche Wort!“

„Aber Lotte, thue es doch, wenn es Dir Spaß macht!“ – Sie hätte ja Recht gehabt, wenn es nur Anita nicht gewesen wäre.

„O, sicher thue ich es, und morgen beginnen wir –.“

Nachmittags setzte sie ihr Strohhütchen auf und nahm ihr kleines Portemonnaie, und als sie wieder kam, trug sie Schreibhefte und eine alte vergilbte italienische Grammatik in der Hand; sie war ganz Feuer und Flamme.

Abends ging ich einen Augenblick hinüber zu Frau Roden. Fritz war eben vom Felde heimgekommen; ich traf ihn im Hausflur.

„Allein?“ fragte er traurig.

„Ja, Fritz, denn Lotte lernt Italienisch; sie will Unterricht nehmen bei Anita.“ Und in meiner Angst setzte ich hinzu: „Leiden Sie es doch nicht, Fritz, sprechen Sie ein Machtwort.“

Er sah mich groß an. „Ich?“ fragte er bitter und ging in sein Zimmer.

Frau Roden wurde bleich bei dieser neuen Caprice. Sie schluckte herzhaft an ihrem Aerger, aber auch sie schwieg. Nur das Eine sagte sie beim Abschied: „Von Energie ist keine Spur mehr in ihm, Tone; er war sonst ein ganzer Mann, und er kann sich nicht entschließen, mit einem Ruck der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen! Ach, Tone, und solche Naturen packt es am gewaltigsten; er hat sie zu lieb, zu lieb!“

Ich sprach ihr Trost ein; sagte, daß Lotte kein kleinlich angelegter Charakter sei; daß sie genug edlen Stolzes besitze, um ihr Wort voll und ganz einzulösen. Aber die alte Frau schüttelte den Kopf. „Sie will vielleicht! Ja, daran zweifle ich nicht, allein – Gott wird helfen,“ setzte sie hinzu und trocknete ihre Thränen.

So ging es denn weiter, unaufhaltsam, und dennoch schien Alles stille zu stehen. Um uns herum des Sommers Lust; Musik an allen Orten, auf dem Schützenplatz und in den Koncertgärten; Abends strömten die Menschen in das Theater, und in der Nacht hörten wir die Schritte, das Sprechen und Lachen der Heimkehrenden bis in unser kleines Zimmer hinauf, und drüben im Schlosse blinkten helle Fenster. Aber irgend etwas war nicht in Ordnung, Prinz Otto nicht mehr der Alte. Die Loge im Theater blieb leer, das Zelt auf der Schützenwiese war umsonst gebaut, und die hübschen Rotenberger Mädchen hatten vergeblich die reizendsten Toiletten bei der Schneiderin bestellt; Prinz Otto blieb allem fern.

„Was thut er denn?“ fragte man sich unter einander. „Er liest, er malt, er ist schlechter Laune,“ sagte Anita zu uns.

„Weßhalb?“ erkundigte sich Großmama, Anita zuckte die Achseln und schwieg.

„Reist er nicht bald ab?“ forschte ich.

„O, kein Gedanke!“ antwortete die kleine schwarze Person. „Vorgestern ist seine Bibliothek gekommen.“

Da ist etwas nicht in Ordnung! So dachte auch ich und blickte auf Lotte, die kein Auge von ihrer italienischen Grammatik erhob.

„Da ist etwas nicht in Ordnung,“ sagte Großmutter und las den Leitartikel in der Zeitung noch einmal. Und dann erzählte sie mir ein Langes und Breites vom Prinzen von Hohenzollern, von Spanien und Napoleon. Ich hörte nur mit halbem Ohre; ich war so ganz bei Lotte und Fritz.

Und dann kam jener Tag!

Lotte war früh aufgestanden und saß nun auf dem Balkon. Es hatte geregnet und noch immer bedeckten graue tiefe Wolken den Himmel; die hielten jeden Sonnenstrahl ab. Das Mädchen hatte sich fest in ein weiches warmes Tuch gehüllt, als ob sie fröstelte, und hielt Schnips auf dem Schoß. Als ich ihr das Frühstück brachte, sah sie zu mir empor mit ein Paar so müden glanzlosen Augen, daß ich erschrak.

„Lotte, Du bist krank?“ fragte ich.

„Ich glaube,“ sprach sie.

„Was fehlt Dir, Liebling? Rede doch!“ bat ich ängstlich. „Komm herein,“ erwiderte sie. Und als wir im Zimmer standen, sagte sie kurz und hart: „Es muß ein Ende werden – ich ertrage es nicht länger – ich kann Fritz Roden mein Wort nicht halten!“

Da war es heraus!

„Lotte!“

„Ich kann nicht!“ wiederholte sie fest und fuhr ruhig fort, als ich schwieg: „Ich habe ihn nie lieb gehabt. Ich hatte es mir so leicht gedacht – ich wußte nicht, was ich that, als ich ‚Ja!‘ sagte. Ich meinte, so ein armseliges Leben, wie wir jetzt führen, könne ich nicht ertragen, und ich hätte es in der That auch nicht ausgehalten. – Und dann – der Hans; ich glaubte ihn zu retten. – Nicht wahr, Du weißt, was ich meine, Tone?“

Sie wollte mich schmeichelnd umfassen; ich stieß sie zurück und schlug die Hände vor das Gesicht, und bittere Thränen rannen mir aus dem Augen.

„So sprich doch!“ rief sie ungeduldig.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_126.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2020)