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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ansichten, in unseren Empfindungen Differenzen herrschten, zwischen denen kein Ausgleich möglich schien. Ich wußte nicht, daß diese Differenzen zwischen Menschen unausbleiblich sind, von denen die einen aus alten Famlilien stammen, welche eine wirkliche Geschichte haben, deren von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbte Tradition ein jeder von ihnen als theures Vermächtniß und für ihn verbindliches Testament seiner Ahnen mit ins Leben nimmt; und die andern dies Leben, so zu sagen, auf eigene Faust, und ohne Verbindlichkeit nach rückwärts, beginnen können und müssen, weil sie schon nicht einmal mehr wissen, wer ihr Großvater gewesen ist. Und ich wußte nicht einmal so recht, wer mein Vater gewesen war. Hielt ich mich aber, wie ich es doch that, zu dem Manne, der mir den besten der Väter ersetzt hatte durch tausendfältige Liebe, und den ich deßhalb von allen Menschen weitaus zumeist liebte, und wollte mir die Geschichte seiner Familie aneignen, nun, so gerieth ich auf jenen Aeltervater, den sein Fürst auf einen Hirsch geschmiedet. Seit jener Nacht war ich ein Fürstenhasser und Republikaner, wie der Vater seiner Zeit gewesen war: ich hatte mit ihm auf der Barrikade gestanden, und sie hatten mir den Finger abgeschossen, und irgend ein Vogtriz hatte Feuer kommandirt. Und hatte mit ihm im Zuchthaus gesessen, zu dem mich ein Ausnahmegericht verurtheilt, dem irgend ein Vogtriz präsidirt; und war mit ihm „oben auf dem Walde“ von Häschern gehetzt worden, wie sein Ahn von den fürstlichen Hunden und sicher hatte irgend ein Vogtriz die Häscher geführt. Wie konnte ich da für die „Gefolgschaft“ mich erwärmen, in welche, wie Schlagododro sagte, die Vogtriz ihren Stolz setzten! wie für den Mann, der Schlagododro’s specielle Schwärmerei war: den Ersten und Stärksten aller Mannen, den glänzenden Paladin, den getreuen Eckhart, den Schirmvogt des Königthums von Gottes Gnaden! Schlimm genug für ihn in meinen Augen, wenn er eine Institution auf einem rocher de bronze befestigen half, welche die freien Griechen und Römer nie ertragen und selbst Barbarenvölker abgeschüttelt hatten, sobald sie sich mündig fühlten!

Auf Schlagododro’s Stirn schwoll die Ader, und seine mächtige Fanst ballte sich, wenn ich in meiner republikanischen Ueberspannung solche Blasphemien vorbrachte. „Du willst Dich nicht vor Bismarck beugen? dem Riesen? Du Wicht, Du Pygmäe, Du Nichts!“ schnob er wüthend. Aber sah ich dann ihm, der mich mit einem Schlage zu Boden strecken konnte, furchtlos in die rollenden Augen, entwölkte sich sofort sein Gesicht, und er legte mir die Hand auf die Schulter. „Kind, Du verstehst von diesen Dingen nichts; ich eigentlich auch nicht, und der Unterschied zwischen uns ist nur der, daß ich sie einmal verstehen werde, und für Dich, wenn Du so fortfährst, die Zeit niemals kommen wird. Denke an das, was ich Dir jetzt sage, und bessere Dich, ehe es zu spät ist!“

Nein, zwischen Schlagododro und mir war eine tiefe Kluft befestigt, die keine Freundschaft überbrücken konnte. Dennoch liebte ich ihn von Herzen, und er liebte mich trotz meiner Ketzereien. „Denn siehst Du, Kind,“ sagte er, „darauf gebe ich nichts. So hast Du Dich auch in die Sache mit dem Pastor nur hinein geredet und wirst Dich ebenso wieder hinausreden; Du bist zu klug, um Dein lebelang ein wunderlicher Heiliger werden zu wollen, wie Dein Stiefvater, der übrigens ein prächtiger alter Herr ist. Du mußt nur erst unter Menschen kommen: zu uns nach Nonnendorf und überhaupt aus diesem kuriosen Winkel heraus. Hier wäre ich vermuthlich auch nicht anders geworden. Nur das Eine weiß ich sicher: mit Emil Israel hätte ich keine Freundschaft geschlossen.“

„Natürlich,“ sagte ich höhnisch, „wie käme denn auch der Ritter zu dem Juden!“

„Außer, wenn er Geld braucht,“ erwiderte Schlagododro ruhig. „Das dürfte bei den Vogtriz öfter der Fall gewesen sein, und ich fürchte, es steht sogar bereits jetzt wieder auf Nonnendorf mehr Israel’sches Geld, als meinem Vater und uns lieb ist. Aber das ist es nicht. Ich könnte keines Juden Freund sein.“

„Hast Du denn schon den Versuch gemacht?“

Schlagododro sah mich statt der Antwort mit wüthenden Blicken an.

„Siehst Du!“ fuhr ich fort. „Und das ist denn Eure gerühmte Ritterlichkeit: man kennt die Menschen gar nicht, giebt sich auch nicht die geringste Mühe, sie kennen zu lernen, sondern haßt und verachtet munter darauf los. Bequem ist das allerdings sehr.“

Er stierte vor sich hin.

„Hast Recht,“ sagte er. „Das ist kein ehrliches Spiel – Wegelagerei. Ueberfall aus dem Hinterhalt. Man muß seinen Feinden die Stirn bieten, denn meine, will sagen unsere Feinde werden die Juden bleiben; aber ich will ihnen wenigstens eine Chance geben. Du sollst mich bei den Israel’s einführen.“

Ich lachte hell auf. Schlagododro in dem dunkeln muffigen Israel’schen Familienzimmer! Das war, wie wenn man einen grimmen Kater in die Gesellschaft von knuspernden Kornmäusen bringt!

„Da ist gar nichts zu lachen,“ sagte Schlagododro. „Ich meine es ganz ehrlich und werde mich durchaus anständig benehmen. Frau Israel gnädige Frau nennen und Herrn I. I. nicht den Kassaschrank ausrauben, trotzdem es gerade augenblicklich um meine Kasse verteufelt schlecht bestellt ist.“

Ich war plötzlich ernsthaft geworden. Die dunkeln Drohungen, welche Herr Israel an jenem Abend vor seinem eisernen Geldschrank gegen Schlagododro’s Vater ausgestoßen, fielen mir wieder ein, und wie gelegen dem Manne Emil’s Kränkung durch Astolf Vogtriz zur Ausführung seiner unfreundlichen Absichten, welche dieselben auch waren, gekommen schien. Nun mochte der zweite Bruder wieder gut machen, was der erste gesündigt.

Indessen, wie wir auch die Sache hin und her überlegten, ein schicklicher Vorwand zur Einführung Ulrich’s in das Giebelhaus wollte sich nicht finden lassen, und bald sollten Ereignisse eintreten, welche nicht nur meinem eigenen alten Verhältniß zu der Nachbarfamilie einen schwersten Stoß versetzten, sondern auch die neue Freundschaft mit Schlagododro stark ins Wanken brachten.


4.

Professor Willy gab unsern vor acht Tagen eingelieferten deutschen Aufsatz: „Lessing’s Humanismus und Nathan der Weise“ kritisirend zurück. Der Ausfall der Arbeiten hatte ihn wenig befriedigt. Ich glaubte es gern, wenn er mit den anderen so unzufrieden war, wie ich in diesem kritischen Augenblick mit der meinigen. Noch gestern hatte ich Schlagododro, dessen Antipathie gegen das Judenthum zu bekämpfen mir als theure Pflicht erschien, ganze Stellen meines Aufsatzes aus dem Gedächtniß recitirt; hatte ihn mit dem Tempelherrn verglichen, dem Manne mit der bitteren Schale und dem süßen Herzenskern; Jettchen mit Recha und konsequenter Weise Isaak Israel mit Nathan, mich bescheidentlich mit dem großdenkenden, vorurtheilsfreien Saladin. Ich hatte freilich in meinem Aufsatz, den ich mit flammender Stirn und pochendem Herzen geschrieben, mein Allerbestes zu geben geglaubt; aber unser Allerbestes erscheint uns in schwachen Stunden als ein Allerschlechtestes. Dies aber war für mich eine jener schwachen Stunden – ich machte mich auf eine fürchterliche Blamage gefaßt.

Und der fatale Ausgang schien gewiß, als jetzt der Professor, nachdem alle übrigen Arbeiten zurückgegeben waren, als das letzte ein blaues Heft in die Hand nahm, das ich nur zu wohl kannte.

Eine kleine fürchterliche Pause, in welcher er seiner Gewohnheit gemäß mit gesenkten Augen dastand, die er jetzt langsam auf mich richtete, während ich die meinen schloß und nur den einen Wunsch hatte, daß ich ebenso auch die Ohren möchte schließen können.

Und nun hob seine Stimme wieder an, seltsam weich und zitternd von einer Erregung, welche die ersten Worte fast unverständlich machte:

„Ich habe hier noch einen Aussatz, den ich mir bis zuletzt aufgespart. Aber es steht geschrieben, die Letzten sollen die Ersten werden. Und dieser letzte ist der erste, ist der beste, ist der einzige, der mich befriedigt, der mich so befriedigt hat, daß ich darüber das traurige Resultat im Uebrigen freilich nicht verschmerzen kann, aber doch weniger schmerzlich empfinde. Denn wenn auch mir in eines Jünglings Seele von so vielen ein Funken des heiligen Feuers glimmt, welches Lessing’s große Seele ganz durchglühte und das er ganz ausgeathmet hat in das Hohe Lied reinster Humanität, als welcher sein ,Nathan‘ durch alle Zeiten klingen wird – nun, so ist dieses Feuer trotz alledem – trotz der banausisch-materialistischen Gesinnung, welche in unseren Tagen die Gemüther der Jugend selbst mit ihrem herzerkältenden Hauche streift – noch nicht erloschen; so braucht man nicht zu verzweifeln,

ob auch, wie der Dichter sagt, ,in trübster Nacht der Hoffnung

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