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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

So dachte auch Deine Mutter, nur freilich in ihrer Weise. Wir kamen überein, daß wir in der Freundschaft, zu der wir uns verbunden, neben einander für unsere Kinder leben wollten an einem stillen Ort, möglichst abgeschieden vom Getreibe der Welt. So sind wir aufgebrochen, einen solchen Ort zu finden. Und zuletzt hierher in unsere Stadt gekommen. Die abgesonderte Lage, die ernste Nähe des Meeres, die Sonntagsruhe in den alterthümlichen Straßen sogar an einem Werkeltage gefielen uns gar wohl, und ich armer Thor glaubte, es würde noch alles gut werden. Deine Mutter nahm sich, wie sie versprochen, mit treuem Ernst der Kinder an, ertrug geduldig die schlimmen Launen der Großmutter, und, wenn ich Dir ein guter Vater war, meinte ich – es hat nicht sein sollen. Kaum ein Jahr, nachdem wir uns hier niedergelassen, begannen bei Deiner Mutter die Folgen jener schweren, wohl miemals recht ausgeheilten Krankheit und des grausamen Herzeleids, welches sie so früh erfahren mußte, deutlicher hervorzutreten, daß sie allmählich so wurde, wie Du sie ja nur noch kennst: voll Abscheu vor der Welt, ängstlich jeden Verkehr meidend außer mit dem Einen, dem sie anvertraut hat, was sie das Heil ihrer Seele nennt. Daß sie darüber auch der Freundschaft vergessen, die sie mir einst versprochen – ich habe über etwas, das nur mich selbst betrifft, auch wenn’s mich hart trifft, zu klagen verlernt. Aber daß sie verlernt hat, Dir Mutter zu sein, wie es andere Mütter ihren Kindern sind – das beklage ich tief. Aber, Kind, beklagen und verklagen, nicht wahr, das sind zwei verschiedene Dinge? Wir dürfen nicht vergessen: sie ist eben krank. Und, nicht wahr, Kind, wenn Du auch so Deiner kranken Mutter nie recht hast froh werden können, wir beide haben doch manche gute Stunde zusammen gehabt, wie auch diese wieder eine war? Und nun, Kind, das letzte Glas, wie das erste, auf Dein Wohl!“

Er schenkte die Neige aus der Flasche in unsere beiden Gläser, sorgfältig darauf achtend, daß in meines mehr kam, als in seines. Als wir die geleerten Gläser wieder niedersetzten, überkam mich plötzlich – ich wüßte nicht zu sagen, woher, es wäre denn aus dem Umstande, daß der Wein, den wir getrunken, ein ausländischer südlicher war – der sonderbarste Einfall, der mir das Blut im Herzen jählings stocken machte, als wenn mir jeder Tropfen, den ich von diesem Wein getrunken, zu Gift werden müßte.

„Was hast Du?“ fragte der Vater, erschrocken über meine veränderte Miene. „War etwas in dem Wein?“

„Ja,“ sagte ich, „es war etwas in dem Wein; und es thut mir bitter leid, daß wir ihn getrunken haben. Der Wein kommt von dem Manne, der meine Mutter unglücklich gemacht hat und Dich und mich – uns alle!“

Der Vater schüttelte den Kopf.

„Es kann ja sein,“ erwiderte er, „obgleich es mir sehr unwahrscheinlich däucht. Indessen, wenn es wäre: der Wein wird dadurch nicht schlechter, und soll man seinen Feinden sieben Mal siebzig Mal vergeben – wie oft muß man es seinem Vater, Kind!“

„Ich habe keinen Vater, ich will keinen Vater, als Dich allein,“ rief ich, aufspringend und mich in seine Arme stürzend. „Die Andern sind alle schlecht und feige und drücken sich um die Wahrheit herum. Du, Du allein bist gut und tapfer und verachtest die Lüge.“

Und ganz außer mir warf ich mich von Neuem in seine Arme. Er war kaum weniger erregt als ich, suchte mich aber mit gütigen Worten zu beruhigen, sich dabei anklagend, daß er mich durch seine Erzählung in so große Aufregung versetzt habe.

Ich ließ ihn nicht ausreden.

„Nein, nein!“ rief ich. „Du brauchst Dir nichts vorzuwerfen. Ich hätte Ursache mir zu zürnen, weil ich Dich nicht schon längst gebeten habe, mir alles zu sagen. Ich hätte mir dann diese letzten schrecklichen Stunden erspart. Von jetzt an bist Du mein Pastor und mein Beichtiger, und wenn ich wieder in Noth bin, wie heute, dann komme ich zuerst zu Dir, dem Todten, der seine Todten begräbt!“

„Was willst Du damit sagen, Kind?“ fragte er sanft.

„O,“ rief ich wild. „es ist nur eine Erinnerung an die letzten Worte des Herrn Pastors, und auf Dich hatte er sie gemünzt.“

„Der Todte seine Todten!“ murmelte er.

Er war an den Sarg getreten, auf den er den rechten Arm lehnte, und blickte nachdenklich vor sich nieder.

„Der Todte seine Todten!“ murmelte er noch einmal. Und dann, die Augen erhebend und mich mit seinem schwermüthigen Lächeln anlächelnd:

„Ja, Kind, darin hat der Mann so unrecht nicht; nur ist es anders, als er’s gemeint hat. Sieh, Kind, ich habe vorhin gesagt, daß alle meine künstlerischen Hoffnungen und Entwürfe längst in mir gestorben sind. Das ist auch wahr, insofern, als ich weiß, daß keine, keine, zu fröhlichem Leben wieder erwachen wird. Aber begraben habe ich meine lieben Todten noch nicht, oder begrabe sie doch nur einen nach dem anderen in jedem Sarge, der da zur Thür hinausgeht. Ich brauche sie nicht zu rufen, sie kommen von selbst und sitzen oder stehen bei mir, während ich die Bretter schneide und hoble und leime, wie sie vor mir saßen und standen, damals in den Römischen Tagen: nur daß sie jetzt alle fertig sind, und schöner fast, als ich sie damals geträumt – mir wird es manchmal recht weh ums Herz, wenn ich sie dann in den Sarg lege und sage: Ade! auf Nimmerwiedersehen! Denn die ich einmal so eingesargt habe, die kommen nicht wieder, die sehe ich nicht wieder. Heute –“

Er schlug die Augen nieder und fuhr mit geisterhaft leiser Stimme fort:

„Heute, als ich so eifrig arbeitete, kam eine Gestalt, an die ich nie wieder gedacht seit achtundvierzig, und die ich mir damals so ausgeträumt, trotzdem ich längst wußte, daß ich keine Kraft mehr hatte, sie auszuführen und keine Zeit in dem Waffenlärm auf den Barrikaden; die Gestalt eines Jünglings, der den Genius des Volkes darstellen sollte, das sich, erwachend, auf sein Freiheitsrecht besinnt. Aber heute wollte die Gestalt mir nicht wieder deutlich werden, und je eifriger ich mich darum mühte – auch das Blatt da geholt hatte, meiner Erinnerung wo möglich nachzuhelfen – desto mehr verwandelte sie sich aus dem, was ich noch dunkel wußte, in etwas Anderes, Neues – in Dich, Kind; nahm Deine Gestalt, Deine Züge an, daß ich schier erschrak und sehr traurig wurde, weil mir war, als müßte ich nun nicht Dein Bild, sondern Dich selbst hier in den fertigen Sarg legen und sei dann allein – ganz allein. Bis ich mich besann, wie kindisch das doch sei, und daß Dein Geburtstag sei, und ich die Flasche da hinstellte, aus der ich mit Dir auf Dein Wohl trinken wollte. Und das habe ich gethan – jeden Tropfen – von ganzem Herzen auf Dein Wohl, und daß Dir in Erfüllung gehen möge und zur Wirklichkeit werde alles, was ich für mich nur habe träumen dürfen: Glück und Liebe und hohe Künstlerschaft und ein einiges Deutschland, in dem nur freie Menschen leben. Und daran soll der Wein, in welchem ich Dir das getrunken habe, nichts ändern, er mag nun kommen, woher und von wem er will. Der Wein, den der Priester spendet, ist auch nicht heilig von Haus aus – er wird nur heilig durch die Liebe. Und an ihre Göttlichkeit und Wahrheit, an ihre Kraft und ihren Segen glaube ich und sonst an nichts, denn alles Andere ist nur Menschenwitz und Menschenwahn und Lug und Trug. Und so, Kind, obschon ich ein einfältiger, unwissender Mensch bin, der überall sonst im Leben und mit allem Schiffbruch gehabt hat und vom berühmten Künstler, den er sich einst träumte, zum Sargtischler geworden ist, den Niemand kennt – eines – das Beste – habe ich doch gerettet: ein Herz voll Liebe zu aller Welt und in Sonderheit zu Dir, mein verlassenes, geliebtes Kind. Und nun, Kind, ob Dir die Priester fluchen – wer flucht, der hat die Liebe nicht. Die Liebe kann nur segnen, und mit dieser meiner Liebe segne ich Dich.“

Ich hatte, als er zu reden anhub, am Tisch gestanden, das Herz voll Groll und Haß, wie sie urplötzlich gewaltsam in einem Knabenherzen auflodern, das sich gegen ein Unrecht aufbäumt, welches dem Verstand wie im Blitz klar geworden ist. Dann war es zuerst der unbeschreiblich milde Klang seiner Stimme gewesen, der in meine Seele gefallen war, wie Oel in wildbewegte Brandungswogen. Aber noch immer waren es nur Worte gewesen, die an mein Ohr schlugen, und deren Sinn ich nicht verstand. Und so wäre es auch wohl geblieben, hätte ich

nicht nun doch die in dumpfem Unmuth niederwärts blickenden Augen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_082.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)