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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sorgfältige Beobachtung ihres Thuns und Treibens stellt als unzweifelhaft fest, daß sie beim Auffinden ihres Opfers weniger durch das Gesicht als durch den Geruch, richtiger vielleicht einen Sinn, welcher Geruch und Empfindung in sich vereinigt, geleitet und geführt werden. Mit Bestimmtheit kann man wahrnehmen, daß sie bei Annäherung eines Menschen bis auf fünf Meter von ihren Ruhesitzen sich erheben und sodann, ohne zu zaudern oder zu irren, auf das Blutopfer zufliegen. Geht man über eine kahle Sandbank, welche von ihnen frei zu sein pflegt, so kann man beobachten, wie sie sich um ihr Opfer sammeln.

Anscheinend halb vom Winde getragen, halb mit eigener Kraft sich bewegend, jedenfalls ziellos wandernd, schweben auch über solchem Gnadenorte beständig einige von ihnen dahin und einzelne gelangen so in die Nähe des Beobachters. In demselben Augenblicke endet ihre scheinbare Unthätigkeit. Jählings ändern sie die Richtung ihres Fluges, und gradenwegs fliegen sie auf den glücklich erkundeten Gegenstand ihres Sehnens zu. Eine gesellt sich zur andern, und ehe fünf Minuten vergehen, umgiebt wiederum ein Strahlenkranz den Märtyrer. Minder leicht finden sie sich in verschiedenen Luftschichten zurecht. Als ich, auf hoch gelegener Düne beobachtend, längere Zeit von Tausenden verfolgt und gequält worden war, zog ich den mich einhüllenden Schwarm allmählich bis zu dem Rande des steilen Abhanges der Düne, ließ ihn hier sich verdichten und sprang plötzlich in die Tiefe hinab. Mit innigster Befriedigung erfuhr ich, daß ich meine Quälgeister wenigstens zum größten Theile abgeschüttelt hatte. Oben auf der Höhe der Düne schwärmten sie, gleichsam verdutzt, durch einander, über der Stelle, von welcher ich herabgesprungen, noch längere Zeit eine dichte Wolke bildend. Einige hundert waren mir jedoch auch in die Tiefe gefolgt.

Wenn der Naturforscher auch weiß, daß nur die weiblichen Mücken Blut saugen und daß diese ihre Thätigkeit unzweifelhaft mit der Fortpflanzung zusammenhängt, wahrscheinlich die Reife der befruchteten Eier bedingt, überwältigt die durch die Dämonen der Tundra verursachte Qual schließlich doch auch ihn, und wäre er der gleichmüthigste Weltweise unter der Sonne. Es ist nicht der Schmerz, welchen die Stiche und mehr noch die ihnen folgenden Beulen mit sich bringen, sondern die fortwährende Belästigung, das ewig sich wiederholende Ungemach, wodurch und worunter man leidet. Man erträgt den Schmerz, welchen die Stiche der Mücken bereiten, vielleicht ohne zu klagen, selbst im Anfange der Plage, erträgt ihn noch leichter später, wenn die Haut gegen das ihr fort und fort eingeträufelte Gift allmählich abgestumpft wird; man ist daher auch im Stande, geraume Zeit Widerstand zu leisten: aber man muß zuletzt doch eingestehen, daß man besiegt und geschlagen wurde durch die entsetzlichen Quälgeister der Tundra. Und so lähmen ihre an Zahl unschätzbaren, allgegenwärtigen, jederzeit kampfbereiten Heere allgemach jeden Widerstand. Ununterbrochen durch sie belästigt, in jeder Handlung gehemmt, in jedem Genusse behindert, von jedem Gedanken abgelenkt, ermattet man nicht allein leiblich, sondern erschlafft endlich auch geistig. Der Fuß will dann nach kurzem Wege seinen Dienst versagen, der Geist keinen Eindruck in sich aufnehmen; die Tundra wird zur Hölle und ihre Plage zu namenloser Qual. Nicht der Winter und seine Stürme, nicht das Eis und seine Kälte, nicht die Armuth, nicht die Unwirthlichkeit, sondern die Mücken sind der Fluch der Tundra!

Während ihrer Schwarmzeit fliegen die Mücken fast ununterbrochen, bei Sonnenschein und ruhigem Wetter mit ersichtlichem Behagen, bei mäßigem Winde noch sehr vergnüglich, bei geringer Wärme noch recht munter, vor drohendem Regen am ausgelassensten, bei kühler Witterung kaum, bei kaltem Wetter gar nicht mehr. Auch heftiger Sturm bannt sie in Gebüsche und Moos; sobald er aber nachläßt, sind sie wiederum rege und thätig und auf allen unter dem Winde liegenden Stellen, selbst im Toben des Sturmes, angriffbereit. Eine Reifnacht fügt ihnen zwar merklichen Abbruch zu, räumt sie jedoch nicht aus dem Wege; naßkalte Tage vermindern ihre Heere, darauf folgende Wärme stellt neu entpuppte Scharen ins Feld. Erst die Herbstnebel bringen sie für das eine Jahr zur Ruhe.

Ebenso langsam, als der Frühling eingezogen, ebenso rasch kommt der Herbst über die Tundra. Eine einzige kalte Nacht endet, meist schon im August, spätestens im September, ihr sommerliches Leben. Die Beeren, welche noch in der Mitte des August kaum hoffen lassen, daß sie zur Reife gelangen werden, sind zu Ende des Monats so saftig und süß geworden, als dies überhaupt möglich; einige naßkalte Nächte, welche die Berge bereits, mit leichter Schneedecke belegen, beschleunigen ihre Reife mehr als die Sonne, welche schon jetzt tagelang in Wolken sich hüllt. Die Blätter der Zwergbirke färben ihre Oberseite blaß und dennoch leuchtend lackroth, ihre Unterseite lebhaft gelb; alle übrigen Sträucher und Sträuchlein erleiden eine ähnliche Verwandlung: und das düstere Braungrün der Tundra geht über in ein so lebhaftes Braunroth, daß selbst die gelbgrüne Renthierflechte nicht mehr zur Geltung kommt. Südwärts oder dem Meere zu fliegen die beschwingten Sommergäste, flußabwärts schwimmen die Fische der Tundra. Von den Bergen herab wandert das Ren, in seinem Gefolge der Wolf, zur Tiefe; zu den Bergen hinauf fliegt das jetzt zu Flügen von Tausenden gescharte Moorhuhn, um hier so lange zu weilen, bis der Winter es wieder in die Tieftundra hinabdrückt.

Noch wenige Tage, und dieser Winter, von uns wie von den Wandervögeln gefürchtet, von den menschlichen Bewohnern der Tundra herbeigesehnt, zieht ein in das unwirthliche Land, um länger, viel länger als Frühling, Sommer und Herbst im Verein in ihm seine Herrschaft zu behaupten. Tage- und wochenlang nach einander fällt Schnee vom Himmel hernieder, bald leise rieselnd, in scharfeckigen Krystallen, bald vom rasendsten Sturme gepeitscht in großen Flocken. Berge und Thäler, Flüsse und Seen verhüllen sich allmählich mit dem einen und einzigen Winterkleide. Noch blitzt dann und wann um die Mittagszeit ein kurzer Sonnenblick auf der schneeigen Fläche wieder; bald aber kündet selbst bei klarem Wetter höchstens ein bleicher Schein im Süden, daß diesem der sonnige Tag bereits zur Hälfte vergangen. Die lange Winternacht ist angebrochen. Monate nach einander flimmert nur der schwache Widerschein der Sterne auf der Schneedecke wieder, giebt einzig und allein der Mond noch Kunde von dem allbelebenden Gestirn unseres Weltenringes. Wenn aber die Sonne der Tundra gänzlich entschwunden, geht ihr leuchtend und strahlend eine andere auf: hoch oben im Norden flimmert und knistert „Sornidud“, das Gottesfeuer, das flammende Nordlicht!

Nordlicht in der Tundra.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_074.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)