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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Aufeinanderfolge von naturnothwendigen Geschehnissen. Der Mensch könne weder etwas dazu noch etwas davonthun, und darum sei es einfach lächerlich, die Geschichte vom „sogenannten“ sittlichen Standpunkt zu betrachten, zu fassen, zu lehren und zu schreiben. Das sagen zwar die Herren nicht so gerade heraus, aber sie glauben und bethätigen es.

Nun, die Menschheit mag zusehen, wohin sie mit einer solchen „Geschichtewissenschaft“ kommen wird.


Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
1. Die Tundra und ihre Thierwelt.
(Schluß.)

Ein absonderlicher Gesell ist auch der Lemming, gleichviel, um welche Art seiner Sippschaft es sich handeln mag. Ihn oder wenigstens seine Spuren gewahrt man überall in der Tundra. Kreuz und quer durchziehen diese, zumal die von der Zwergbirke überwucherten Stellen, schmale, in das Moos eingetretene, glatt und sauber gehaltene Pfädchen, oft mehrere hundert Meter weit so ziemlich eine und dieselbe Richtung verfolgend, oft nach rechts und links abschweifend und erst nach vielen Umwegen wieder zur Hauptstraße zurückkehrend. In ihnen sieht man von Zeit zu Zeit, in trockenen Sommern massenhaft, ein kleines, kurzschwänziges, hamsterähnliches Thierchen behend dahinhuschen und meist bald dem Auge entschwinden. Dies ist der Lemming, eine Wühlmaus von weniger als Ratten- aber mehr als Mausgröße und bunt aber unregelmäßig gezeichnetem, meist braunem, gelbem, grauem und schwarzem Felle. Zergliedert man das Thierchen, so bemerkt man nicht ohne Verwunderung, daß es, so zu sagen, fast ganz aus Fett und Eingeweide besteht. Seine Knochen und seine Muskeln sind fein und zart, seine Eingeweide ungeheuerlich entwickelt. Aus diesem Befund erklären sich Lebenserscheinungen, welche lange Zeit für räthselhaft gegolten haben: fast plötzliche und gleichsam unbegrenzte Vermehrung und großartige, anscheinend geregelte Wanderungen des Thieres. Unter gewöhnlichen Verhältnissen führt der Lemming ein sehr behagliches Leben. Weder im Sommer noch im Winter leidet er an Nahrungssorgen. Allerlei Pflanzenstoffe, im Winter Moosspitzen, Flechten und Rinde, bilden seine Nahrung, Höhlungen im Sommer, ein warmes, dickwandiges, weich ausgefüttertes Nest mitten im Schnee im Winter seine Wohnung.

Der Lemming.

Zwar dräuen von allen Seiten Gefahren: denn nicht allein die behaarten und gefiederten Räuber, sondern sogar die Renthiere verschlingen Hunderte und Tausende seines Geschlechtes; dieses aber mehrt sich dem ungeachtet stetig und erheblich, bis besondere Umstände eintreten, welche binnen wenig Wochen entstandene Milliarden binnen wenig Tagen vernichten. Zeitiger als gewöhnlich erscheint ein Frühling, und trockener als üblich herrscht ein Sommer in der Tundra. Alle Jungen des ersten Wurfes eines, sämmtlicher Lemmingweibchen gedeihen, um höchstens sechs Wochen später selbst ihre Art zu vermehren. Die Eltern haben inzwischen ein zweites, drittes Geschlecht geboren, und auch dieses folgt ihrem Beispiele. Binnen drei Monaten wimmeln Höhen und Tiefen der Tundra ebenso von Lemmingen wie unter ähnlichen Umständen unsere Felder von Mäusen. Wohin man sich wendet, gewahrt man die geschäftigen Thiere; Dutzende von ihnen erfaßt man mit einem einzigen Blicke, Tausenden begegnet man im Laufe einer Stunde. Auf allen Pfädchen und Wegen rennen sie dahin; in die Enge getrieben, setzen sie sich, belfernd, die Zähne wetzend, selbst dem Menschen gegenüber zur Wehre, gerade, als ob ihre unendliche Anzahl jedem einzelnen trotzigen Uebermuth verliehen habe. Aber die unendliche, noch immer sich steigernde Menge wird ihnen zum Verderben. Ihrem gefräßigen Zahne bietet die arme Tundra bald nicht genügende Beschäftigung mehr. Hungersnoth nähert sich, tritt vielleicht wirklich ein. Da rotten sich die geängstigten Thiere und beginnen zu wandern. Zu Hunderten schaaren sich andere Hunderte, Tausenden gesellen sich andere Tausende: die Trupps wachsen zu Haufen, die Haufen zu Heeren an.

In bestimmter Richtung ziehen diese dahin, erst wohl ihren früher ausgetretenen Pfädchen folgend, später neue bahnend; in unabsehbaren, jeder Schätzung spottenden Reihen eilen sie weiter, über die Felsen stürzen sie sich hinab, in die Gewässer hinein, Tausende erliegen dem Mangel, dem Hunger; über ihre Leichen hinweg strömt das Heer der Nachzügler, Hunderte, Tausende ertrinken in den Gewässern, zerschellen am Fuße der Felsen, die übrigen stürmen über sie hinweg; andere Hunderte und Tausende finden in dem Magen der ihnen folgenden Eis- und Rothfüchse, Wölfe und Vielfraße, Rauchfußbussarde und Raben, Eulen und Raubmöven ihr Grab; die übrigen lassen sich nicht beirren. Wohin diese wandern, wie sie enden, vermag Niemand zu sagen; wohl aber weiß man, daß hinter ihnen die Tundra wie ausgestorben erscheint, daß oft eine Reihe von Jahren vergeht, bevor die wenigen, welche zurückblieben und auch fernerhin gediehen, langsam sich vermehrend, wiederum ersichtlich ihr heimathliches Gefilde bevölkern.

Ein drittes Charakterthier der Tundra ist das Ren. Wer diesen an und für sich unschönen Hirsch nur in gefangenem Zustande, dem der Sklaverei, zu sehen bekam, vermag sich allerdings keinen Begriff zu machen von dem, was er ist in seiner Freiheit. Hier lernt man es schätzen, hier in der Tundra, als ein Glied seiner Familie, welches diese nicht schändet, erkennen und würdigen. Der Tundra gehört das Ren an mit Leib und Seele, Ueber die oft unabsehbaren Gletscher wie über die schlotternde Decke der unergründlichen Moräste, über die Geröllhalden wie über die verfilzten Wipfel der Zwergbirken oder doch die Moospolster hinweg, über die Flüsse, die Seen trägt oder rudert es sein breithufiger, schaufelartiger, in ungewöhnlicher Weise beweglicher, bei jedem Schritte knisternder Fuß; im tiefsten Schnee schaufelt derselbe ihm Nahrung bloß. Gegen die grimmige Kälte der langen Nordlandnacht schützen es sein dichtes, den Pfeilen des Winters undurchdringliches Fell, gegen die Leiden des Hungers seine Wahllosigkeit hinsichtlich der Nahrung, welche es genießt, gegen den Wolf, welcher ununterbrochen an seinen Fersen hängt, bis zu einem gewissen Grade wenigstens Sinnesschärfe und Wachsamkeit, Schnelligkeit und Ausdauer. Den Sommer verlebt es in den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_071.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2024)