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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Prinzeßchen,“ sagte ich zu Lotte, die mit leuchtenden Augen vor ihrer Staffelei stand, „ich finde es komisch, daß Du drüben malen willst.“

„Weil Du mir nicht die geringste Abwechselung gönnst!“ fuhr Lotte heraus, und ihr schönes Gesicht wurde blaß. „Weil Du gar nicht begreifst, wie ich darbe und leide in dieser Abgeschiedenheit, in diesem Winkel! Du nicht, und die Großmutter nicht und die da drüben nicht! Du kannst es nicht begreifen, was ich entbehre; Du kochst und bratest und bist hochbeglückt, wenn Dir ein Pudding geräth – ich, o ich ersticke!“

Und sie sank auf einen Stahl und begann so herzzerreißend zu weinen, daß Großmutter erschreckt aus dem Nebenzimmer herbeikam.

„Aber Lotte!“ Das war Alles, was sie sagte.

Diese hatte sich aber in Zorn geredet; sie richtete das thränenüberströmte Gesicht auf, und die Worte stürzten ihr nur so aus dem Munde. „Was ist denn unser Leben? Früh aufstehen und Abends schlafengehen, und dazwischen eine entsetzliche Spanne Langeweile! Was höre ich denn? Tone’s wirthschaftliche Fragen oder ein Kapitel aus einem Roman von Scott oder Friederike Bremer! Wer verkehrt bei uns? Der nüchterne Weisheitskrämer, der – o, wie ich ihn hasse, diesen kleinstädtischen Bären! Oder denkst Du, es ist mir ein Genuß, wenn der große wichtige Pedant in seinen Stulpenstiefeln dahergetrappt kommt, Kaffee bei uns trinkt und mit uns spazieren geht? Was sehe ich denn an dieser Stadt? Es ist mir so gleichgültig, daß dort der Pastor wohnt und hier der Bürgermeister, und daß Martin Luther diese Handvoll rother Dächer inmitten der Bäume mit einer Schüssel gekochter Krebse verglichen hat, die mit Petersilie garniert sind. Denkt ihr, daß es mir ein Vergnügen ist, Sonntags den Oberprediger sprechen zu hören, der keinen Zahn mehr im Munde hat, wobei man nothwendig die sündhaftesten Gedanken bekommen muß? Oder die spießige Sonntagstoilette der Rotenberger Hautevolée zu bewundern? Sicher nicht! O, ich hasse dieses Krähwinkel, dieses Eulennest bis zum Verzweifeln. Und nun soll ich nicht einmal dort hinüber, weil jene Person irgend eine Vergangenheit hat! Kann mir das etwas schaden? Bin ich denn ein Kind?“

Sie schwieg völlig athemlos.

„Ach, Prinzeßchen!“ bat ich ängstlich.

„Laßt mich gewähren!" drohte sie, „oder ich thue Etwas, was ich –“

„Nun, nun, Du kleine Furie!“ Die alte Frau lächelte. „Was denn zum Beispiel?“

„O, es giebt alles Mögliche,“ zürnte das Mädchen; „denkt doch an Erna von Wallwitz, die aus Verzweifluhg einen Bierbrauer geheirathet hat.“

Ich lachte hell auf, und Großmutter meinte ernsthaft: „Sie hat eine gute respektabele Partie gemacht; er ist ein braver, gebildeter Mann.“

Lotte zuckte die feinen Schultern.

„Ihr werdet mich nicht hindern, hinüber zu gehen,“ sagte sie halb befehlend, halb fragend, „oder –“

„Oder sie heiratet einen Bierbrauer,“ scherzte die alte Dame und nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand.

„Es kann ja auch ein ungeschlachter Oekonom sein,“ murmelte Lotte und warf mir einen Blick zu, der mich bis ins Herz traf. Und plötzlich breitete sie die Arme aus und flog mir an den Hals. „Nein, Tone, wie ist es möglich. Wie ist es möglich!“ lachte sie.

„Was denn?“ fragte ich streng, als dies Kind mit unvorsichtiger Hand an mein heiligstes Geheimniß rühren wollte.

„Was denn? Wie Du Dich verstellen kannst!

‚O wie freu ich mich, mein Liebchen,
Daß Du so natürlich bist –
Unsre Mädchen, unsre Bübchen
Spielen künftig auf dem Mist!‘“

Und sie hielt sich noch immer lachend das Näschen zu. „Ich kann nichts dafür – das sagt Goethe, Tone. Es ist zum Todtlachen!“

Großmutter und Lotte hatten die Einladung zum Bratäpfelfeste abgelehnt. Großmutter war in der That angegriffen, und Lotte hatte keine Lust. „O Gott, es ist zu langweilig,“ seufzte sie, „verschone mich mit diesen heidnischen Gebräuchen und diesen Weisheitskollegien; höre Du es allein, Seele, und iß die Bratäpfel für mich mit.“

„Und was willst Du unterdeß beginnen?“

„Schlafen!“ lachte sie, „was sonst? Viel Glück, Schwester Tone, und grüß mir Deinen –“

„Lotte!“ sagte ich streng.

„Na, gute Nacht!“ gähnte sie, warf ihre schöne Gestalt auf das Sofa und griff zu einem Buche.

Ich stand noch eine Weile still vor dem Spiegel im Schlafzimmer und studirte mein Gesicht. War ich denn wirklich so ganz und gar nicht hübsch? „Zu viel Kouleur,“ sagte Großmutter immer. „Gar keine aparte Haarfarbe,“ hatte einst meine Stiefmutter bemerkt. Ja freilich, so wie Lotte war ich nicht: wer kann auch immer gleich schön sein! Ich strich über mein einfach gescheiteltes Haar, fühlte den dicken Knoten im Nacken und band seufzend den Mantel um; welches Mädchen ist sich schön genug, wenn sie Ihm gefallen will?

Es war schon spät, und ich lief durch die Wege des Gartens und über den finstern Hof; der Decemberwind heulte in den hohen Bäumen und trieb mich noch rascher vorwärts; ich flog formlich in den Hausflur hinein und vermochte kaum die schwere Thür zu halten.

„Holla!“ sagte Frau Roden, „so allein durch Nacht und Wind?“ Und sie leitete mich freundlich in die warme helle Wohnstube, wo auf schneeweißem Tische Punschgläser, Pfefferkuchen und die bewußten Bratäpfel prangten.

Ich richtete meine Entschuldigung aus, so gut ich konnte.

„Sagen wir, Lotte will nicht, Kindchen. Immer ehrlich! Wär’s eine Theaterloge in Berlin, die ich ihr heute statt meiner Wohnstube angeboten, so würde sie wohl wollen. Nun, desto mehr danke ich Ihnen für Ihr Kommen.“

Ich sah sie erstaunt an. Auf dem gütigen Gesicht lag eine hohe Röthe, und die Art, wie sie sich in die Sofa-Ecke setzte, die Gläser und Teller rückte und das Strickzeng erfaßte, hatte etwas Hastiges, das ungewöhnlich bei ihr war.

„Setzen Sie sich, mein gutes Kind; der Junge wird gleich kommen.“ Und sie winkte mich neben sich auf das Sofa.

„Sind Sie nicht wohl, Frau Räthin?“ fragte ich, denn ihre Hände zitterten.

„Doch!“ erwiderte sie, „aber – ich kann es Ihnen nicht erzählen. Da denkt man nun, man schwimmt auf spiegelglattem Meere, man hat vergessen, daß es Stürme giebt – und hui! auf einmal bläst uns ein Orkan ins Antlitz; als ob ein Meer ohne Wellen, ein Leben ohne Kämpfe möglich sei. Aber daß der Sturm von der Seite kommt –“ Sie schwieg eine ganze Weile, dann fuhr sie fort: „Was man Alles an Lebenserfahrungen sammelt, das möchte man so gern seinen Kindern geben, ihnen damit rathend und fördernd zur Seite stehen; aber die Jugend will selbst erfahren, sie wirft das gesammelte Gold in den Staub und sucht sich unter Mühsal und Enttäuschung neue Körner, die den verschmähten aufs Haar gleichen. Es soll wohl so sein, und wir haben es nicht anders gemacht. Aber er dauert mich unbeschreiblich, er und sie und wir Alle! – Da kommt er,“ setzte sie hinzu, und ihre Mienen suchten sich zu beherrschen, während ich fühlte, wie mir das Blut zum Herzen stieg und es zu zersprengen drohte. Im nächsten Moment stand er im Zimmer.

„Allein?“ war seine erste Frage, als er mir die Hand gab.

„Das Prinzeßchen hatte wohl etwas Besseres vor,“ sagte die Mutter.

Er setzte sich schweigend auf den Stuhl, auch sein Gesicht war finster. Es vergingen peinliche Minuten, in denen kein Wort gesprochen wurde. Endlich stand er auf, klingelte und hieß den Punsch bringen, füllte die Gläser und reichte sie uns, und nun hielt er seine große Rechte über den Tisch hinüber seiner Mutter hin und sah sie an mit bittenden Blicken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_065.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2024)