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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Für die Mutter Möllern,“ sagte der Vater als Erläuterung, sein Werk mit zufriedenen Blicken betrachtend. „Die alte Seele hat nicht Kind, nicht Kegel und keinen Menschen, der sich um sie gekümmert hat, die dreißig Jahre, die sie im Spittel war. Sie wird natürlich auf Spittelkosten begraben; wir werden unsern kleinsten Satz nehmen müssen.“

Er hatte sich die blaugrüne Schürze abgebunden, in der Kammer die Hände gewaschen und kam nun wieder in die Werkstatt mit einem noch besonders freundlichen Lächeln auf dem lieben sanften Gesicht.

„Nun,“ sagte er, „da stehst Du noch gerade wie vorhin? Bist Du nicht hungrig, Kind?“

Ich raffte mich aus meiner Verstörung auf. Der Vater hatte vom frühesten Morgen bis jetzt ununterbrochen sich abgemüht; war es recht, ihm nun, wo er der Ruhe, der Erholung so bedürftig war, sich nach einem stillen friedlichen Beisammensein mit mir sehnte, mit meinem Leid, mit meiner Noth zu kommen? ihm, dem Mitleidigen? ihm, der Anderer Noth stets tiefer empfand, als seine eigene? Was mir noch vor einem Augenblick als selbstverständlich und als einziger Ausweg erschienen war, däuchte mir nun eine egoistische Grausamkeit. Nein, lieber mochte es werden, wie es wollte.

Ich hatte eben Zeit zu dieser Ueberlegung gehabt. Der Vater hatte sich geschäftig nach dem Tischchen in der Ecke der Werkstatt gewandt, auf welchem unsere Mahlzeit hergerichtet war, über die er sorgsam die Zipfel eines reinen Tischtuches nach allen Seiten in die Höhe geschlagen hatte. Jetzt nahm er dieselben vorsichtig auseinander: zwischen Brot, Butter und kaltem Aufschnitt stand statt des üblichen kleinen irdenen Kruges mit Bier eine Flasche Wein und zwei Gläser.

Er blickte mich lächelnd an.

„Was sagst Du, Kind, zu dieser Verschwendung? Ich fand sie heute, als ich da“ – er deutete nach der Kammer – „in der großen Kiste eine Zeichnung suchte. Weiß nicht, wie sie da hinein gekommen ist; aber es muß lange her sein; ich erinnere mich nicht, seitdem wir hier sind, Wein gekauft zu haben, oder daß mir wer welchen geschenkt hätte. Gleichviel! Und da dachte ich, die willst Du mit dem Kinde ausstechen, wenn es nach Hause kommt. Weißt Du, auf wessen Wohl?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Deines, Kind, Deines!“ rief er triumphirend; „es ist ja heute Dein Geburtstag.“

Er hatte die Arme ausgebreitet; ich warf mich an seine Brust. Die gewaltsame Spannung, in welcher meine Nerven diese letzten Stunden hindurch gewesen waren, lösten sich in einer Thränenfluth.

Er war erschrocken über meine stürmische Heftigkeit, die er sich in seiner Weise auslegte.

„Laß gut sein, Kind, laß gut sein!“ bat er, indem er mir wie einem wirklichen Kinde die nassen Wangen streichelte und die wirren Locken aus der heißen Stirn strich. „Sie ist eben krank, sonst hätte sie es sicher nicht vergessen. Und ich, schlechter Kerl, hätte es auch beinahe vergessen über all’ der Arbeit. Laß gut sein, Kind! laß gut sein!“

Ich fühlte, wie ich ihn quälte, und richtete mich entschlossen aus seinen Armen auf.

„Ja, Vater,“ sagte ich, „es ist gut. Du und ich! Wenn ich Dich nur habe, das ist mir genug. Das ist besser als alles Andere. Laß uns essen; ich bin schrecklich hungrig.“

Ich war es gar nicht; ich mußte mir die Bissen hinunterwürgen. Er bemerkte es glücklicherweise nicht, um so weniger, als ich mich zu einer Gesprächigkeit zwang, welche mir der Wein erleichterte. Ich hatte drüben bei Hopps oft Wein zu trinken bekommen, so trefflichen nie. Er glänzte in den Gläsern wie flüssiges Gold, und ein herrlicher Duft stieg aus ihm empor. Auch der Vater erlabte sich sichtlich daran. Eine leichte Röthe, die ihm schon nach dem zweiten Glase in die sonst bleichen Wangen stieg, und das sanfte Licht, das sich in den guten blauen Augen entzündete, ließen ihn um viele Jahre jünger erscheinen. Zum ersten Mal in meinem Leben fiel mir ein, daß auch er einmal jung gewesen sein müsse. Und weiter, daß ich doch so gar nichts von seinem Leben wisse. Und weiter, daß, wenn ich den Muth fände, ihn zu bitten, mir von sich und was er erlebt zu erzählen, und er, woran ich nicht zweifelte, es thäte, dabei doch irgend einmal eine Gelegenheit sich ergeben werde, wo ich die Rede auf meine Angelegenheit bringen könne.

Ich hatte den Gedanken, wie er in meinem von dem Feuerwein erregten Gehirn aufgestiegen war, kaum erfaßt, als ich nur noch auf eine Wendung in dem Gespräch wartete, die es mir möglich mache, meine Bitte vorzubringen, ohne mich zu verrathen. Und der Augenblick sollte bald kommen. Der Vater hatte wieder von der Zeichnung angefangen, die er suchte, als er den Wein fand. Das Blatt lag mir zur Hand auf dem Werkzeugtisch. Ich langte darnach und sah zu meinem Erstaunen, daß es nicht nur mit zierlichen Ornamenten bedeckt war, wie sie die Kunsttischler brauchen, sondern auch mit schönen Figuren, männlichen und weiblichen, theils nackt, theils in prächtigen faltenreichen Gewandungen. Ich hatte mich selbst hin und wieder im Zeichnen versucht und wußte wenigstens, wie schwer so etwas zu machen sei.

„Ist das auch von Dir, Vater?“ fragte ich.

Er nickte mit bescheiden vergnüglichem Lächeln.

Ich starrte wieder auf das Blatt, entschlossen, jetzt, wo die Gelegenheit so günstig war, meine Bitte vorzubringen, als ich plötzlich nicht mehr die Figuren vor mir auf dem Blatte sah, sondern die geheimnißvollen Gestalten und Gesichter, die auf mich herabgeblickt hatten aus dem golddurchblitzten Halbdunkel jenes großen schönen Gemaches, in welches mich der seltsame Traum geführt, der mir meine Mutter und mich gezeigt hatte, wie wir vor dem Manne mit den blitzenden Augen auf den Knieen lagen.

Dieselbe abergläubische Furcht, die mich schon einmal befallen hatte, als ich Emil Israel den Traum erzählen wollte - ich hatte es sonst gegen Niemand gethan - befiel mich wieder. Aber jetzt war ich kein Kind mehr, und die letzten Stunden hatten zu hart in meine Seele gegriffen. Der Augenblick war gekommen wo ich mit den Zweifeln, die mich so lange gemartert, ein Ende machen mußte, mich nicht mehr schrecken lassen durfte von heiligen oder unheiligen Geheimnissen. Und gesetzt auch, der gute Vater konnte mir das Geheimniß des Glaubens nicht lösen, so doch vielleicht das jenes Traumes.

Dies alles muß binnen wenigen Sekunden durch mein Gehirn gezuckt sein, denn, als ich jetzt aufblickte, hatte des Vaters Gesicht noch genau denselben lächelnden Ausdruck, mit dem er vorhin meine Frage bejaht, die mir nun erst wieder einfiel.

„Aber wenn Du so Schönes machen kannst,“ sagte ich, „das viel viel schöner ist als unsere schönsten Vorlegeblätter in der Schule, wie kommt es –“

„Daß ich Sargtischler geworden bin?“ vervollständigte er, mich unterbrechend, meinen Satz. „Das möchtest Du wissen?“

„Ja,“ sagte ich, „das möchte ich wissen.“

„Das ist zwar keine lange Geschichte,“ sagte er „aber ich fürchte, Du würdest nicht so viel Freude daran haben, als an den Märchen, die ich Dir sonst zu erzählen pflegte. Es war einmal ein König – weißt Du?“

„Gleichviel,“ sagte ich eifrig. „Ich bin heute sechzehn Jahre alt, und – thu’s mir zu Liebe! Das wäre mir das rechte Geburtstagsgeschenk.“

Er blickte nachdenklich vor sich nieder.

„Ein wunderliches Geschenk,“ murmelte er.

Und dann, das Gesicht wieder hebend und mich mit den treuen Augen liebevoll anlächelnd, sagte er:

„Du hast Recht, Kind. Ich hätte es schon früher thun sollen: Du und ich, wir sind ja wie zwei gute Kameraden. Aber Du weißt, welch’ ein scheuer Kauz ich bin. Und wenn Du es noch nicht wüßtest, würdest Du es erfahren, wenn ich Dir erzählen soll, wie ich Sargtischler ward. Will Dir’s erzählen, als wär’s just nicht ich, dem’s passirte, sondern irgend einem armen Jungen von den vielen Tausenden; da wird es, glaube ich, besser gehen.“

Er nippte an dem herrlichen Wein, strich mit der Linken durch den grauen Bart und begann.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_064.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)